Juni-Juli 1885 37 [1-18]
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Ein anderes demagogisches Talent unserer Zeit ist Richard Wagner: aber der gehört nach Deutschland.— Wirklich? Lasse man einmal eine umgekehrte Schätzung zu Worte kommen. Die Pariser mögen sich gegen Richard Wagner noch so sehr sperren und sträuben: zuletzt gehört er eher noch Paris als noch D, und jedenfalls mehr dorthin als in irgendeine andere Hauptstadt Europas. Zugegeben, daß die ihm verwandteste Art von Franzosen jetzt erst dort selber spärlich geworden sein mag:—ich meine jenen Nachwuchs des romantisme der dreißiger Jahre, unter dem er, in der entscheidendsten Zeit seines Lebens, hat leben wollen. Dort fühlte er sich selber verwandt und heimischer als in Deutschland, mit seiner ungeheuren Begierde nach exotischen Gerüchen und Farben und unerprobten neuen Ausschweifungen des Erhabenen, mit seinem sonnenarmen, gequälten Glück an der Entdeckung des Häßlichen und Gräßlichen. Was suchten diese Romantiker Anderes, was fanden und erfanden sie Anderes als Richard Wagner? Waren sie nicht allesammt gleich ihm geistreich-krank, gewaltsam und ihrer selber unsicher, von der Litteratur beherrscht bis in ihre Augen und Ohren, meistens sogar selber Schreibende, Dichtende, Künstler des Ausdrucks um jeden Preis—ich liebe Delacroix hinaus—, Vermittler und Vermenger der Künste und der Sinne selber, heraufgekommene Plebejer, welche gleich Balzac, im Verlangen nach Glanz und Ruhm unersättlich und eines vornehmen tempo im Leben und Schaffen—eines lento—unfähig zeigten? Man gestehe es sich doch ein: wie viel Wagnerisches ist doch an dieser französischen Romantik! Auch jener hysterisch-erotische Zug, den Wagner am Weibe besonders geliebt und in Musik gesetzt hat, ist am besten gerade in Paris zu Hause: man frage nur die Irrenärzte—; und nirgendswo werden einmal die hypnotisirenden Griffe und Hand-Auflegungen, mit denen unser musikalischer Magus und Cagliostro seine Weiblein zur wollüstigen Nachtwandelei mit offnen Augen und geschlossenem Verstande zwingt und überredet, so gut “verstanden” werden als unter Pariserinnen. Die Nähe von krankhaften Begierden, die Brunst rasend gewordener Sinne, über welche der Blick durch Dünste und Schleier des Übersinnlichen auf gefährliche Weise getäuscht wird: wohin gehört das mehr als in die Romantik der französischen Seele! Hier wirkt ein Zauber, der unvermeidlich einmal noch die Pariser zu Wagner belehren wird.— Wagner aber soll durchaus der eigentlich deutsche Künstler sein: so dekretirt man heute in Deutschland, so verehrt man ihn, in einer Zeit, welche wieder einmal die prahlerische Deutschthümelei auf die Höhe bringt. Diesen “eigentlich deutschen” Wagner giebt es gar nicht: ich vermuthe, der ist die Ausgeburt sehr dunkler deutscher Jünglinge und Jungfrauen, welche sich mit diesem Dekrete selbst verherrlichen wollen. Daß irgend Etwas an Wagner deutsch sein mag, ist wahrscheinlich: aber was? Vielleicht nur der Grad, nicht die Qualität seines Wollens und Könnens? Vielleicht nur, daß er alles stärker, reicher, verwegener, härter gemacht hat als es irgend ein Franzose des neunzehnten Jahrhunderts machen könnte? Daß er gegen sich selber strenger und den längsten Theil seines Lebens in deutscher Weise, auf eigne Faust, als unerbittlicher Atheist, Antinomist und Immoralist gelebt hat? Daß er die Figur eines sehr freien Menschen, des Siegfried, erdichtete, welche in der That zu frei, zu hart, zu wohlgemuth, zu unchristlich für den lateinischen Geschmack sein mag?— Freilich hat er auch diese Sünde wider die französische Romantik am Ende wieder quitt zu machen gewußt: der letzte W, in seinen alten Tagen ist mit seiner Siegfried-Caricatur, ich meine mit seinem Parsifal, nicht nur dem romanischen, sondern geradezu dem römisch-katholischen Geschmacke entgegen gekommen: bis er zuletzt gar noch mit einer Kniebeugung vor dem Kreuze und mit einem nicht unberedten Durste nach “dem Blute des Erlösers” Abschied genommen hat. Auch von sich selber! Denn es gehört bei altgewordnen Romantikern zur leidigen Regel, daß sie am Schlusse ihres Lebens sich selber “verleugnen” und verkennen,—und ihr Leben—durchstreichen!— Zuletzt sei noch gefragt: wenn jenes Geschlecht der dreißiger Jahre in Blut und Nerven die Erben und noch mehr die Opfer jener tragischen Erschütterungen der Napoleonischen Zeit sind,—Beethoven hat diesem Geschlechte in Tönen und Byron in Worten präludirt—wird es nicht erlaubt sein, an eine ähnliche Abkunft der Seele Richard Wagners zu denken? Er ist 1813 geboren.