Juni-Juli 1885 37 [1-18]
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Über alle diese nationalen Kriege, neuen “Reiche” und was sonst im Vordergrunde steht, sehe ich hinweg: was mich angeht—denn ich sehe es langsam und zögernd sich vorbereiten—das ist das Eine Europa. Bei allen umfänglicheren und tieferen Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesammtarbeit ihrer Seele, jene neue Synthesis vorzubereiten und versuchsweise “den Europäer” der Zukunft vorwegzunehmen: nur in ihren schwächeren Stunden, oder wenn sie alt wurden, fielen sie in die nationale Beschränktheit der “Vaterländer” zurück—, dann waren sie “Patrioten.” Ich denke an Menschen wie Napoleon, Göthe, Beethoven, Stendhal, Heinrich Heine, Schopenhauer; vielleicht gehört auch Richard Wagner hierher, über welchen, als über einen wohlgerathenen Typus deutscher Unklarheit, sich durchaus nichts ohne ein solches “Vielleicht” aussagen läßt. Dem aber, was in solchen Geistern als Bedürfniß nach einer neuen Einheit oder bereits als eine neue Einheit mit neuen Bedürfnissen sich regt und gestaltet, steht eine große wirthschaftliche Thatsache erklärend zur Seite: die Kleinstaaten Europas, ich meine alle unsere jetzigen Staaten und “Reiche,” müssen, bei dem unbedingten Drange des großen Verkehrs und Handels nach einer letzten Gränze, nach Weltverkehr und Welthandel, in kurzer Zeit wirthschaftlich unhaltbar werden. (Das Geld allein schon zwingt Europa, irgendwann sich zu Einer Macht zusammen zu ballen.) Um aber mit guten Aussichten in den Kampf um die Regierung der Erde einzutreten—es liegt auf der Hand, gegen wen sich dieser Kampf richten wird—hat Europa wahrscheinlich nöthig, sich ernsthaft mit England zu “verständigen”: es bedarf der Kolonien Englands zu jenem Kampfe ebenso, wie das jetzige Deutschland, zur Einübung in seine neue Vermittler- und Makler-Rolle, der Kolonien Hollands bedarf. Niemand nämlich glaubt mehr daran, daß England selber stark genug sei, seine alte Rolle nur noch fünfzig Jahre fortzuspielen; es geht an der Unmöglichkeit, die homines novi von der Regierung auszuschließen, zu Grunde, und man muß keinen solchen Wechsel der Parteien haben, um solche langwierigen Dinge man muß heute vorerst Soldat sein, um als Kaufmann nicht seinen Kredit zu verlieren. Genug: hierin, wie in anderen Dingen, wird das nächste Jahrhundert in den Fußtapfen Napoleons zu finden sein, des ersten und vorwegnehmenden Menschen neuerer Zeit.
Für die Aufgaben der nächsten Jahrhunderte sind die Arten “Öffentlichkeit” und Parlamentarismus die unzweckmäßigsten Organisationen.