Juni-Juli 1885 37 [1-18]
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Es naht sich, unabweislich, zögernd, furchtbar wie das Schicksal, die große Aufgabe und Frage: wie soll die Erde als Ganzes verwaltet werden? Und wozu soll “der Mensch” als Ganzes—und nicht mehr ein Volk, eine Rasse—gezogen und gezüchtet werden?
Die gesetzgeberischen Moralen sind das Hauptmittel, mit denen man aus dem Menschen gestalten kann, was einem schöpferischen und tiefen Willen beliebt: Vorausgesetzt, daß ein solcher Künstler-Wille höchsten Ranges die Gewalt in den Händen hat und seinen schaffenden Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann, in Gestalt von Gesetzgebungen, Religionen und Sitten. Solchen Menschen des großen Schaffens, den eigentlich großen Menschen, wie ich es verstehe, wird man heute und wahrscheinlich für lange noch umsonst nachgehen: sie fehlen—: bis man endlich, nach vieler Enttäuschung, zu begreifen anfangen muß, warum sie fehlen und daß ihrer Entstehung und Entwicklung für jetzt und für lange nichts feindseliger im Wege steht, als das, was man jetzt in Europa geradewegs “die Moral” nennt: wie als ob es keine andere gäbe und geben dürfte—jene vorhin bezeichnete Heerdenthier-Moral, welche mit allen Kräften das allgemeine grüne Weide-Glück auf Erden erstrebt, nämlich Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Leichtigkeit des Lebens und zu guterletzt, “wenn alles gut geht,” sich auch noch aller Art Hirten und Leithammel zu entschlagen hofft. Ihre beiden am reichlichsten gepredigten Lehren heißen: “Gleichheit der Rechte” und “Mitgefühl für alles Leidende”—und das Leiden selber wird von ihnen als etwas genommen, das man schlechterdings abschaffen muß. Daß solche “Ideen” immer noch modern sein können, giebt einen üblen Begriff von Wer aber gründlich darüber nachgedacht hat, wo und wie die Pflanze Mensch bisher am kräftigsten emporgewachsen ist, muß vermeinen, daß dies unter den umgekehrten Bedingungen geschehen ist: daß dazu die Gefährlichkeit seiner Lage ins Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungskraft unter langem Druck und Zwang sich emporkämpfen, sein Lebens-Wille bis zu einem unbedingten Willen zur Macht und zur Obermacht gesteigert werden muß, und daß Gefahr, Härte, Gewaltsamkeit, Gefahr auf der Gasse u im Herzen, Ungleichheit der Rechte, Verborgenheit, Stoicismus, Versucher-Kunst u Teufelei jeder Art, kurz der Gegensatz aller Heerden-Wünschbarkeiten, zur Erhöhung des Typus Mensch nothwendig sind. Eine Moral mit solchen umgekehrten Absichten, welche den Menschen ins Hohe, statt ins Bequeme und Mittlere, züchten will, eine Moral mit der Absicht, eine regierende Kaste zu züchten—die zukünftigen Herren der Erde—muß, um gelehrt werden zu können, sich in Anknüpfung an das bestehende Sittengesetz und unter dessen Worten und Anscheine einführen; daß dazu aber viele Übergangs- und Täuschungsmittel zu erfinden sind, und daß, weil die Lebensdauer Eines Menschen beinahe nichts bedeutet in Hinsicht auf die Durchführung so langwieriger Aufgaben und Absichten, vor Allem erst eine neue Art angezüchtet werden muß, in der dem nämlichen Willen, dem nämlichen Instinkte Dauer durch viele Geschlechter verbürgt wird: eine neue Herren-Art und -Kaste—dieß begreift sich ebenso gut als das lange und nicht leicht aussprechbare Und-so-weiter dieses Gedankens. Eine Umkehrung der Werthe für eine bestimmte starke Art von Menschen höchster Geistigkeit und Willenskraft vorzubereiten und zu diesem Zwecke bei ihnen eine Menge im Zaum gehaltener und verläumdeter Instinkte langsam und mit Vorsicht zu entfesseln: wer darüber nachdenkt, gehört zu uns, den freien Geistern—freilich wohl zu einer neueren Art von “freien Geistern” als die bisherigen: denn diese wünschten ungefähr das Entgegengesetzte. Hierher gehören, wie mir scheint, vor Allem die Pessimisten Europas, die Dichter und Denker eines empörten Idealismus, insofern ihre Unzufriedenheit mit dem gesammten Dasein sie auch zur Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Menschen mindestens logisch nöthigt; insgleichen gewisse unersättlich-ehrgeizige Künstler, welche unbedenklich und unbedingt für die Sonderrechte höherer Menschen und gegen “das Heerdenthier” kämpfen und mit den Verführungs-Mitteln der Kunst bei ausgesuchteren Geistern alle Heerden-Instinkte und Heerden-Vorsicht einschläfern; zudritt endlich alle jene Kritiker und Historiker, von denen die glücklich begonnene Entdeckung der alten Welt—es ist das Werk des neuen Columbus, des deutschen Geistes—muthig fortgesetzt wird —denn wir stehen immer noch in den Anfängen dieser Eroberung. In der alten Welt nämlich herrschte in der That eine andere, eine herrschaftlichere Moral als heute; und der antike Mensch, unter dem erziehenden Banne seiner Moral, war ein stärkerer und tieferer Mensch als der Mensch von Heute,—er war bisher allein “der wohlgerathene Mensch.” Die Verführung aber, welche vom Alterthum her auf wohlgerathene, d. h. auf starke und unternehmende Seelen ausgeübt wird, ist auch heute noch die feinste und wirksamste aller antidemokratischen und antichristlichen: wie sie es schon zur Zeit der Renaissance war.