November 1887 - März 1888 11 [101-200]
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(359) In einer Welt, die wesentlich falsch ist, wäre Wahrhaftigkeit eine widernatürliche Tendenz: eine solche könnte nur Sinn haben als Mittel zu einer besonderen höheren Potenz von Falschheit: damit eine Welt des Wahren, Seienden fingirt werden konnte, mußte zuerst der Wahrhaftige geschaffen sein (eingerechnet, daß ein solcher sich “wahrhaftig” glaubt)
Einfach, durchsichtig, mit sich nicht im Widerspruch, dauerhaft, sich gleichbleibend, ohne Falte, Volte, Vorhang, Form: ein Mensch der Art concipirt eine Welt des Seins als “Gott” nach seinem Bilde.
Damit Wahrhaftigkeit möglich ist, muß die ganze Sphäre des Menschen sehr sauber, klein und achtbar sein: es muß der Vortheil in jedem Sinne auf Seiten des Wahrhaftigen sein.— Lüge, Tücke, Verstellung müssen Erstaunen erregen ..
Der Haß gegen die Lüge und die Verstellung aus Stolz, aus einem reizbaren Ehrbegriff; aber es giebt einen solchen Haß auch aus Feigheit: weil Lüge verboten ist.— Bei einer anderen Art Mensch hilft alles Moralisiren “du sollst nicht lügen” nichts gegen den Instinkt, welcher der Lüge beständig bedarf: Zeugniß das neue Testament.