November 1887 - März 1888 11 [101-200]
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Die Lasterhaften und Zügellosen: ihr deprimirender Einfluß auf den Werth der Begierden. Es ist die schauerliche Barbarei der Sitte, welche, im Mittelalter vornehmlich, zu einem wahren “Bund der Tugend” zwingt—nebst ebenso schauerlichen übertreibungen über das, was den Werth des Menschen ausmacht. Die kämpfende “Civilisation” (Zähmung) braucht alle Art Eisen und Tortur, um sich gegen die Furchtbarkeit und Raubthier-Natur aufrecht zu erhalten.
Hier ist eine Verwechslung ganz natürlich, obwohl vom schlimmsten Einfluß: das, was Menschen der Macht und des Willens von sich verlangen können, giebt ein Maaß auch für das, was sie sich zugestehen dürfen. Solche Naturen sind der Gegensatz der Lasterhaften und Zügellosen: obwohl sie unter Umständen Dinge thun, derentwegen ein geringerer Mensch des Lasters und der Unmäßigkeit überführt wäre.
Hier schadet der Begriff der “Gleichwerthigkeit der Menschen vor Gott” außerordentlich: man verbot Handlungen und Gesinnungen, welche, an sich, zu den Prärogativen der Starkgerathenen gehören,—wie als ob sie an sich des Menschen unwürdig wären. Man brachte die ganze Tendenz des starken Menschen in Verruf, indem man die Schutzmittel der Schwächsten (auch gegen sich Schwächsten) als Werth-Norm aufstellte.
Die Verwechslung geht so weit, daß man geradezu die großen Virtuosen des Lebens (deren Selbstherrlichkeit den schärfsten Gegensatz zum Lasterhaften und “Zügellosen” abgiebt) mit den schimpflichsten Namen brandmarkte. Noch jetzt glaubt man einen Cesare Borgia mißbilligen zu müssen: das ist einfach zum Lachen. Die Kirche hat deutsche Kaiser auf Grund ihrer Laster in Bann gethan: als ob ein Mönch oder Priester über das mitreden dürfte, was ein Friedrich der Zweite von sich fordern darf. Ein Don Juan wird in die Hölle geschickt: das ist sehr naiv. Hat man bemerkt, daß im Himmel alle interessanten Menschen fehlen? ... Nur ein Wink für die Weiblein, wo sie ihr Heil am besten finden ... Denkt man ein wenig consequent und außerdem mit einer vertieften Einsicht in das, was ein “großer Mensch” ist, so unterliegt es keinem Zweifel, daß die Kirche alle “großen Menschen” in die Hölle schickt—, sie kämpft gegen alle “Größe des Menschen”...