November 1887 - März 1888 11 [101-200]
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(365) — dies ist es nicht was uns abscheidet: daß wir keinen Gott wiederfinden, weder in der Geschichte, noch in der Natur, noch hinter der Natur,—sondern daß wir das, was als Gott verehrt wurde, nicht als “göttlich,” sondern als heilige Fratze, als Moutonnerie, als absurde und erbarmungswürdige Niaiserie, als Princip der Welt- und Mensch-Verleumdung empfinden: kurz daß wir Gott als Gott leugnen. Es ist der Gipfel der psychologischen Verlogenheit des Menschen, sich ein Wesen als Anfang und “An-sich” [nach] seinem Winkel-Maßstab des ihm gerade gut, weise, mächtig, werthvoll Erscheinenden herauszurechnen—und dabei die ganze Ursächlichkeit, vermöge deren überhaupt irgendwelche Güte, irgendwelche Weisheit, irgendwelche Macht besteht und Werth hat, wegzudenken. Kurz, Elemente der spätesten und bedingtesten Herkunft als nicht entstanden, sondern als “an sich” zu setzen und womöglich gar als Ursache alles Entstehens überhaupt ... Gehen wir von der Erfahrung aus, von jedem Fall, wo ein Mensch sich bedeutend über das Maaß des Menschlichen erhoben hat, so sehen wir, daß jeder hohe Grad von Macht Freiheit von Gut und Böse ebenso wie von “Wahr” und “Falsch” in sich schließt und dem, was Güte will, keine Rechnung gönnen kann: wir begreifen dasselbe noch einmal für jeden hohen Grad von Weisheit—die Güte ist in ihr ebenso aufgehoben als die Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Tugend und andere Volks-Velleitäten der Werthung. Endlich jeder hohe Grad von Güte selbst: ist es nicht ersichtlich, daß er bereits eine geistige Myopie und Unfeinheit voraussetzt? insgleichen die Unfähigkeit, zwischen wahr und falsch zwischen nützlich und schädlich auf eine größere Entfernung hin zu unterscheiden? gar nicht davon zu reden, daß ein hoher Grad von Macht in den Händen der höchsten Güte die unheilvollsten Folgen (“die Abschaffung des übels”) mit sich bringen würde?— In der That, man sehe nur an, was der “Gott der Liebe” seinen Gläubigen für Tendenzen eingiebt: sie ruiniren die Menschheit zu Gunsten des “Guten.”— In praxi hat sich derselbe Gott Angesichts der wirklichen Beschaffenheit der Welt als Gott der höchsten Kurzsichtigkeit, Teufelei und Ohnmacht erwiesen: woraus sich ergiebt, wie viel Werth seine Conception hat.
An sich hat ja Wissen und Weisheit keinen Werth; ebenso wenig als Güte: man muß immer erst noch das Ziel haben, von wo aus diese Eigenschaften Werth oder Unwerth erhalten—es könnte ein Ziel geben, von wo aus ein extremes Wissen einen hohen Unwerth darstellte (etwa wenn die extreme Täuschung eine der Voraussetzungen der Steigerung des Lebens wäre; insgleichen wenn die Güte etwa die Sprungfedern der großen Begierde zu lähmen und zu entmuthigen vermöchte ...
Unser menschliches Leben gegeben, wie es ist, so hat alle “Wahrheit,” alle “Güte” alle “Heiligkeit,” alle “Göttlichkeit” im christlichen Stile bis jetzt sich als große Gefahr erwiesen—noch jetzt ist die Menschheit in Gefahr, an einer lebenswidrigen Idealität zu Grunde zu gehn