Ende 1870 - April 1871 7 [1-204]
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Hier ist ohne Weiteres klar, daß nur eine ganz kleine Schaar von Auserwählten in die höchsten Grade eingeweiht werden kann und daß die große Masse ewig in den Vorhöfen stehen bleiben wird: ebenso, daß ohne jene Epopten der letzten Weisheit der Zweck der ehrwürdigen Institution völlig unerreicht bleibt, während jeder der anderen Eingeweihten, im Streben nach einem persönlichen Glück oder einer individuellen Aussicht auf ein schönes Weiterleben, somit im egoistischen Drange auf der Stufe der Erkenntnisse muthig vorwärts schreitet, bis er stehen bleiben muß, dort, wo sein Auge den schrecklichen Glanz der Wahrheit nicht mehr verträgt. An dieser Grenze scheiden sich nun die Einzelnen aus, die, um sich wenig besorgt, von einem schmerzlich vorwärtstreibenden Stachel in jene fressende Helle hineingeführt werden—um dann mit verklärten Blicken zurückzukehren, als ein Triumph des dionysischen Willens, der durch einen wundervollen Wahn auch noch die daseinverneinende letzte Spitze seiner Erkenntniß, den stärksten Speer, der gegen das Dasein selbst gerichtet ist, umbiegt und zerbricht. Für die große Menge gelten ganz andere Lockmittel oder Drohungen: dahin gehört der Glaube daß die Uneingeweihten nach dem Tode im Schlamm liegen werden, während die Eingeweihten einer seligen Fortexistenz gewärtig sein dürfen. Tiefsinniger sind schon andre Bilder, in denen das Dasein in diesem Leben als ein Gefängniß, der Leib als ein Grabmal der Seele angeschaut wurde. Nun aber kommen die eigentlichen dionysischen Mythen von unvergänglichem Gehalt, die wir als den Unterboden des ganzen hellenischen Kunstlebens zu betrachten haben: wie der zukünftige Weltherrscher als Kind (D[ionysos] Z[agreus]) von den Titanen zerstückelt wird und wie er jetzt in diesem Zustande als Zagreus zu verehren ist. Dabei wird ausgesprochen, daß diese Zerreißung, das eigentliche dionysische Leiden, gleich einer Umwandlung in Luft Wasser Erde und Gestein Pflanze und Thier sei; wonach also der Zustand der Individuation als der Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches betrachtet worden ist. Aus dem Lächeln des Phanes sind die olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen geschaffen. In jenem Zustand hat Dionysos die Doppelnatur eines grausamen, verwilderten Dämons und eines milden Herrschers (als •([D4f<4@l] und (é:[0FJ¬l] und :g48[\P4@l]). Diese Natur offenbart sich in so schrecklichen Anwandlungen, wie in jener Forderung des Wahrsagers Euphrantides vor der Schlacht bei Marathon, man müsse dem Dionysos •[(D4f<4@l] die drei Schwesternsöhne des Xerxes, drei schöne und glänzend geschmückte Jünglinge zum Opfer bringen: dies allein sei die Bürgschaft des Sieges. Die Hoffnung der Epopten gierig auf eine Wiedergeburt des Dionysos, die wir jetzt als ein Ende der Individuation zu verstehen haben: diesem kommenden dritten Dionysus erscholl der brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur in dieser Hoffnung giebt es einen Strahl von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in Individuen zerspaltenen Welt: wie es der Mythus durch die über die Zerreißung des Dionysus in ewige Trauer versenkte Demeter versinnbildlicht, welche zum ersten Male wieder sich freut als man ihr sagt, sie könne den Dionysos noch einmal gebären. In den angeführten Anschauungen haben wir bereits alle Bestandtheile der tiefsinnigsten Weltbetrachtung zusammen: die Grunderkenntniß von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes alles Übels, das Schöne und die Kunst als die Hoffnung daß der Bann der Individuation zu zerreißen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit. Ein solcher Kreis von Vorstellungen darf freilich nicht in das Bereich des Alltäglichen, in die regelmäßige Kultordnung hinübergezogen werden, wenn er nicht auf das Schmählichste entstellt und verflacht werden soll. Die ganze Institution der Mysterien zielte darauf hin, nur dem diese Einsicht in Bildern zu geben, der vorbereitet sei, d. h. der auf sie durch eine heilige Noth bereits hingeführt sei. In diesen Bildern aber erkennen wir alle jene excentrischen Stimmungen und Erkenntnisse wieder, die der Orgiasmus der dionysischen Frühlingsfeste fast auf einmal und neben einander erregte: die Vernichtung der Individuation, das Entsetzen über die zerbrochene Einheit, die Hoffnung einer neuen Weltschöpfung, kurz die Empfindung eines wonnevollen Schauders, in dem die Knoten der Lust und des Schreckens zusammengebunden sind. Als sich jene ekstatischen Zustände in die Mysterienordnung eingesponnen hatten, war die größte Gefahr für die apollinische Welt beseitigt und jetzt konnte der Staatengott, ohne Besorgniß, daß der Staat dadurch zertrümmert werde, und Dionysos ihren sichbaren Bund schließen, zur Erzeugung des gemeinsamen Kunstwerks, der Tragödie, und zur Verherrlichung ihres Doppelwesens in dem tragischen Menschen. Diese Vereinigung drückt sich z. B. in der Empfindung des athenischen Bürgers aus, dem nur Zweierlei als höchster Frevel galt: die Entweihung der Mysterien und die Zerstörung der Verfassung seines Staatswesens. Daß die Natur die Entstehung der Tragödie an jene zwei Grundtriebe des Apollinischen und des Dionysischen geknüpft hat, darf uns ebenso sehr als ein Abgrund der Vernunft gelten als die Vorrichtung derselben Natur, die Propagation an die Duplicität der Geschlechter zu knüpfen: was dem großen Kant jederzeit erstaunlich erschienen ist. Das gemeinsame Geheimniß ist nämlich, wie aus zwei einander feindlichen Principien etwas Neues entstehen könne, in dem jene zwiespältigen Triebe als Einheit erscheinen: in welchem Sinne die Propagation ebenso sehr als das tragische Kunstwerk als eine Bürgschaft der Wiedergeburt des Dionysos gelten darf, als ein Hoffnungsglanz auf dem ewig trauernden Antlitz der Demeter.