Ende 1870 - April 1871 7 [1-204]
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[ ... ] Unter diesem hin- und herwogenden Kampfe ist die neuere Kunst geboren, und sie trägt als das Abzeichen dieser Kämpfe gewöhnlich den “sentimentalischen” Charakter und hat ihr höchstes Ziel erreicht, wenn sie im Stande ist die “Idylle” zu schaffen. Ich bin nicht im Stande, jene herrliche Schillersche Terminologie [Vgl. Friedrich Schiller, Ueber naive und sentimentalische Dichtung.] auf das ganze weiteste Bereich aller Kunst anzuwenden, sondern finde eine erhebliche Summe von Kunstzeitaltern und Kunstwerken, die ich unter jene Begriffe nicht zu bringen weiß: wenn anders ich “naiv” richtig zu interpretiren meine als “rein apollinisch,” “als Schein des Scheins,” dagegen “sentimentalisch” als “unter dem Kampf der tragischen Erkenntniß und der Mystik geboren.” So gewiß in dem “Naiven” das ewige Merkmal einer allerhöchsten Kunstgattung erkannt ist, so gewiß reicht der Begriff “sentimentalisch” nicht hin, um die Merkmale aller nicht-naiven Kunst zusammenzufassen. Welche Verlegenheiten bereitet uns, falls wir das wollten, z. B. die griechische Tragoedie und Shakespeare! Und gar die Musik! Dagegen verstehe ich als den vollen Gegensatz des “Naiven” und des Apollinischen das “Dionysische” d. h. alle Kunst, die nicht “Schein des Scheins,” sondern “Schein des Seins” ist, Wiederspiegelung des ewigen Ur-Einen, somit unsere ganze empirische Welt, welche, vom Standpunkte des Ureinen aus, ein dionysisches Kunstwerk ist; oder von unserem Standpunkt aus, die Musik. Dem “Sentimentalisch” muß ich sogar vom höchsten Richterstuhle aus die Geltung eines reinen Kunstwerks versagen, weil es nicht wie jene höchste und dauernde Versöhnung des Naiven und des Dionysischen entstanden ist, sondern unruhig zwischen beiden hin- und herschwankt, und ihre Vereinigung nur sprungweise, ohne bleibenden Besitz erreicht, vielmehr zwischen den verschiedenen Künsten, zwischen Poesie und Prosa, Philosophie und Kunst, Begriff und Anschauung, Wollen und Können eine unsichere Stellung hat ist das Kunstwerk jenes noch unentschiedenen Kampfes, den es zu entscheiden sich anschickt, ohne dies Ziel zu erreichen; wohl aber weist es uns, wie z. B. die Schillersche Dichtung, zu unsrer Rührung und Erhebung, auf neue Bahnen hin und ist somit “Johannes” der Vorläufer “all’ Volk der Welt zu taufen.” [Vgl. Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg [1862], iii, i. In: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 7. Leipzig: Fritzsch, 1873:312.]