Ende 1870 - April 1871 7 [1-204]
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Was ist das für ein Genius, zu dessen Erzeugung der Sokratismus immer und immer wieder anregt?
Wir haben bereits erkannt, wie an dem theoretischen Genius die auf den Instinkten ruhende und über sich nicht zur Erkenntniß gekommene griechische Kunst und Ethik zu Grunde gierig: womit naturgemäß auch über den griechischen Staat, der auf der Grundlage jener Ethik und zum Zweck jener Kunst überhaupt nur existirt hatte, das Todesurtheil ausgesprochen war. Auf welches neue Kunstziel das zunächst kunstwidrig sich äußernde Wirken des theoretischen Genius hinweist und über welche ungeheure Zeiträume hin die Erzeugung dieser neuen Kunst sich ausbreitet, darüber ist mir eine Vermuthung gekommen, die auszusprechen ich, bei aller Ähnlichkeit derselben mit einer metaphysischen Grille, ja auf die Gefahr der gefährlichsten Verketzerung hin, mich nicht scheuen werde: wobei ich zum Voraus bemerken muß, daß mir die Zeit ebensowenig wie dem Geologen, meinem Zeitgenossen, imponirt und ich mir daher die Disposition über Jahrtausende, als über etwas durchaus Unreales, zur Entstehung eines großen Kunstwerks, unverzagt gestatte.
In einer doppelten Weise drängt der theoretische Genius zur Entfesselung der künstlerisch-mystischen Triebe, einmal durch sein Dasein überhaupt, das, wie eine Farbe die andere, auch das Dasein des unsterblichen Zwillingsbruders fordert, gemäß einer Art von Alloeopathie der Natur: andrerseits durch das bereits erwähnte Umschlagen der Wissenschaft in Kunst, bei dem jedesmaligen Erreichen ihrer Grenzen. Den Beginn des letzteren Prozesses haben wir uns etwa so vorzustellen, daß der theoretische Mensch an irgend einem Punkt der anschaulichen Welt die Existenz einer Illusion wahrnimmt, die allgemeine Existenz einer naiven Täuschung der Sinnlichkeit und des Verstandes, von der er unter behutsamem Gebrauch der Kausalität und an der Hand des logischen Mechanismus sich selbst befreit: dabei entdeckt er zugleich, daß die gewöhnliche mythische Vorstellung jenes Hergangs im Vergleich mit seiner Erkenntniß einen Irrthum enthalte, daß somit das als glaubwürdig verehrte Weltbild des Volks mit nachweisbaren Irrthümern behaftet sei. So beginnt die griechische Wissenschaft: die sofort in ihren ersten Stadien, im Grunde nur als Embryo der Wissenschaft, schon in Kunst umschlägt und von dem fußbreiten soeben errungenen Standpunkte aus durch eine phantastische Analogie ein neues Weltbild ins Blaue zeichnet, die Welt als Wasser oder als Luft oder als Feuer. Hier ist ein einfaches chemisches Experiment durch eine Hohlspiegelvergrößerung zum Ursprung des Seins gemacht worden: als welchen Kosmogonien zu Liebe jetzt die Vielheit und Unendlichkeit des Vorhandenen nur durch eine Unzahl physikalischer Phantasmen, ja wenn diese nicht zureichen, selbst durch die alten Volksgötter, erklärt werden müssen. So entfernt sich das wissenschaftliche Weltbild zuerst nur langsam von den volksthümlichen Vorstellungen und kommt, nach einem kurzen Seitensprunge, immer wieder auf sie zurück, sobald die eigentliche engbegrenzte Erkenntniß zur Grunderkenntniß der Welt erweitert werden soll. Welche Kraft ist es, die zu jenen maßlosen Übertreibungen und [zum] Mißbrauche des analogischen Schlusses nöthigt, und andrerseits den theoretischen Menschen von dem sichren, eben errungenen Boden zum Kribskrabs der Imagination so verführerisch wegtreibt? Warum dieser Sprung ins Bodenlose? Wir haben uns hier zu erinnern, daß der Intellekt nur ein Organ des Willens ist und somit in allem seinem Wirken auf das Dasein, mit nothwendiger Gier, hindrängt und daß es sich bei seinem Ziele nur um verschiedene Formen des Daseins, nie aber um die Frage nach Sein oder Nichtsein handeln kann. Für den Intellekt giebt es kein Nichts als Ziel, somit auch keine absolute Erkenntniß, weil diese dem Sein gegenüber ein Nichtsein wäre. Das Leben unterstützen—zum Leben verführen, ist demnach die jeder Erkenntniß zu Grunde liegende Absicht, das unlogische Element, welches als der Vater jeder Erkenntniß auch die Grenzen derselben bestimmt. So mag immerhin jenes mythische, mit Phantasmen geschmückte Weltbild nur als Übertreibung einer kleinen wissenschaftlichen Einzelerkenntniß erscheinen: in Wahrheit ist es der treibende Grund dieser Erkenntniß; wenn auch dieser Prozeß vom Bewußtsein nicht erfaßt werden kann, das immer nur empirisch, nach lauter Erfahrungssätzen zu urtheilen gezwungen ist und über Grund und Folge überhaupt nur das Verkehrte uns sagen kann. Das was also jedesmal über die Grenze der Wissenschaft hinausgeht und uns gleichsam — — —