Ende 1870 - April 1871 7 [1-204]
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[ ... ] Nun denke man sich nach allen diesen Voraussetzungen, welch ein unnatürliches, ja unmögliches Unterfangen es sein muß, Musik zu einem Gedichte zu machen d. h. ein Gedicht durch Musik illustriren zu wollen, wohl gar mit der ausgesprochenen Absicht, die begrifflichen Vorstellungen des Gedichtes durch die Musik zu symbolisiren und damit der Musik zu einer Begriffssprache zu verhelfen: ein Unterfangen, welches mir ähnlich vorkommt wie wenn ein Sohn seinen Vater zeugen wollte. Die Musik kann Bilder aus sich heraus projiciren: die aber immer nur Abbilder, gleichsam Beispiele ihres eigentlichen Inhalts sind; das Bild, die Vorstellung wird nie aus sich Musik erzeugen können, geschweige denn daß dies der Begriff oder—wie man gesagt hat—die poetische Idee zu thun im Stande wäre. Dagegen ist es gar kein so lächerliches Phänomen, wie dies neueren Aesth[etikern] erschienen ist, wenn eine Beethovensche Symphonie immer und immer wieder den einzelnen Zuhörer zu einer Bilderrede nöthigt, sei es auch daß eine Zusammenstellung der verschiedenen durch ein Tonstück erzeugten Bilderwelten sich recht phantastisch bunt, ja widersprechend ausnimmt: an solchen Zusammenstellungen ihren armen Witz zu üben und gar nicht das Phänomen als erklärenswerth zu erkennen, ist recht in der Art jener Herren. Ja selbst wenn der Tondichter in Bildern über eine Komposition geredet hat, etwa wenn er eine Sinfonia als pastorale und einen Satz als “Scene am Bach” oder als “als lustiges Zusammenleben der Landleute” bezeichnet, so sind das nichts als gleichnißartige, aus der Musik geborne Vorstellungen, die über den dionysischen Inhalt der Musik uns nach keiner Seite hin belehren können, ja die keinen ausschließlichen Werth neben anderen Bildern haben. [Vgl. Otto Jahn, Gesammelte Aufsatze über Musik. Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1866: 263.] Die Musik aber nun gar in den Dienst einer Reihe von Bildern und Begriffen zu stellen, sie als Mittel zum Zweck, zu ihrer Verstärkung und Verdeutlichung, zu verwenden—diese sonderbare Anmaßung, die im Begriff der “Oper” gefunden wird, erinnert mich an den lächerlichen Menschen, der sich mit seinen eigenen Armen in die Luft zu heben versucht: was dieser Narr, und was die Oper nach jenem Begriffe versuchen, sind reine Unmöglichkeiten. Jener Opernbegriff fordert nicht etwa von der Musik einen Mißbrauch, sondern—wie ich sagte—eine Unmöglichkeit! Die Musik kann nie Mittel werden, man mag sie stoßen, schrauben, foltern: als Ton, als Trommelwirbel, auf ihren rohesten und einfachsten Stufen überwindet sie noch die Dichtung und erniedrigt sie zu ihrem Wiederscheine. Die Oper als Kunstgattung nach jenem Begriff ist somit nicht sowohl Verwirrung der Musik, als eine irrthümliche Vorstellung der Aesthetik. Wenn ich übrigens hiermit das Wesen der Oper für die Aesthetik rechtfertige, so bin ich natürlich weit entfernt, damit schlechte Opernmusik oder schlechte Operndichtungen rechtfertigen zu wollen. Die schlechteste Musik kann immer noch der besten Dichtung gegenüber den dionysischen Weltuntergrund bedeuten: und die schlechteste Dichtung Spiegel, Abbild und Wiederschein dieses Untergrundes sein, bei der besten Musik: so gewiß nämlich der einzelne Ton, dem Bild gegenüber, bereits dionysisch und das einzelne Bild, sammt dem Begriff und Wort, der Musik gegenüber, bereits apollinisch ist. Ja selbst schlechte Musik sammt schlechter Poesie kann noch über das Wesen der Musik und der Poesie belehren. Das Recitativ deutlichster Ausdruck der Unnatur. Wenn also z. B. Schopenhauer die Norma Bellini’s als Erfüllung der Tragödie, hinsichtlich ihrer Musik und Dichtung, empfand, [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 3, 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band. Leipzig: Brockhaus, 1873: 498.] so war er, in seiner dionysisch-apollinischen Erregung und Selbstvergessenheit, dazu völlig berechtigt, weil er Musik und Dichtung in ihrem allgemeinsten gleichsam philosophischen Werthe, als Musik und Dichtung überhaupt, empfand: während er mit jenem Urtheil einen nur wenig gebildeten d. h. historisch vergleichenden Geschmack bewies. Uns, die wir in dieser Untersuchung absichtlich jeder Frage nach dem historischen Werthe einer Kunsterscheinung aus dem Wege gehen und nur die Erscheinung selbst, in ihrer unveränderten, gleichsam ewigen Bedeutung, somit auch in ihrem höchsten Typus, ins Auge zu fassen uns bemühn—uns gilt die Kunstgattung der Oper als ebenso berechtigt wie das Volkslied, insofern wir in beiden jene Vereinigung des Dionysischen und Apollinischen vorfinden und für die Oper—nämlich für den höchsten Typus der Oper—eine analoge Entstehung voraussetzen dürfen wie für das Volkslied. Nur insofern die uns historisch bekannte Oper seit ihrem Anfang eine völlig verschiedene Entstehung hat als das Volkslied, verwerfen wir diese “Oper”: als welche sich zu jenem eben von uns vertheidigten Gattungsbegriff der Oper verhält wie die Marionette zum lebenden Menschen. So gewiß auch die Musik nie Mittel, im Dienste des Textes, werden kann, sondern auf jeden Fall den Text überwindet: so wird sie doch sicherlich schlechte Musik, wenn der Componist jede in ihm aufsteigende dionysische Kraft durch einen ängstlichen Blick auf die Worte und Gesten seiner Marionetten bricht. Hat ihm der Operndichter überhaupt nicht mehr als die üblichen schematisirten Figuren mit ihrer ägyptischen Regelmäßigkeit geboten: so wird der Werth der Oper um so höher sein, je freier, unbedingter, dionysischer die Musik sich entfaltet und je mehr sie alle sogenannten dramatischen Anforderungen verachtet. Die Oper in diesem Sinn ist dann freilich im besten Falle gute Musik und nur Musik: während die dabei abgespielte Gaukelei gleichsam nur eine phantastische Verkleidung des Orchesters, vor allem seiner wichtigsten Instrumente, der Sänger, ist, von der der Einsichtige sich lachend abwendet. Wenn die große Masse sich gerade an ihr ergötzt und die Musik dabei nur gestattet: so geht es ihr wie allen denen, die den goldenen Rahmen eines guten Gemäldes höher als dieses selbst schätzen: wer möchte solchen naiven Verirrungen noch eine ernsthafte oder gar pathetische Abfertigung gönnen? Was wird aber die Oper als “dramatische” Musik zu bedeuten haben, in ihrer möglichst weiten Entfernung von reiner, an sich wirkender, allein dionysischer Musik? Denken wir uns ein buntes leidenschaftliches und den Zuschauer fortreißendes Drama, das als Aktion bereits seines Erfolges sicher ist: was wird hier “dramatische” Musik noch hinzuthun können, wenn sie nichts davonnimmt? Sie wird aber erstens viel davonnehmen: denn in jedem Momente, wo einmal die dionysische Gewalt der Musik in den Zuhörer einschlägt, umflort sich das Auge, das die Aktion sieht, das sich in die vor ihm auftretenden Individuen versenkt hat: der Zuhörer vergißt jetzt das Drama und wacht erst wieder für dasselbe auf, wenn ihn der dionysische Zauber losgelassen hat. Insofern die Musik aber den Zuhörer das Drama vergessen macht, ist sie noch nicht “dramatische” Musik: was ist das aber für Musik, die keine dionysische Gewalt auf den Hörer äußern darf? Und wie ist sie möglich? Sie ist möglich als rein conventionelle Symbolik, in der die Konvention alle natürliche Kraft ausgesogen hat: als Musik, die sich zu Erinnerungszeichen abgeschwächt hat: und ihre Wirkung hat darin ihr Ziel, den Zuschauer an etwas zu mahnen, was ihm beim Anblick des Dramas, zu dessen Verständniß, nicht entgehen darf: wie ein Trompetensignal für das Pferd eine Aufforderung zum Trabe ist. Endlich wäre noch vor Beginn des Dramas und in Zwischenscenen oder in langweiligen, für die dramatische Wirkung zweifelhaften Stellen, ja selbst in seinen höchsten Momenten, eine andere, nicht mehr rein conventionelle Erinnerungsmusik erlaubt, nämlich Aufregungsmusik, als Stimulanzmittel für stumpfe oder abgespannte Nerven. Diese beiden Elemente vermag ich allein in der sogenannten dramatischen Musik zu unterscheiden: eine conventionelle Rhetorik als Erinnerungsmusik und eine vor allem physisch wirkende Aufregungsmusik: und so schwankt sie zwischen Trommellärm und Signalhorn einher, wie die Stimmung des Kriegers, der in die Schlacht zieht. Nun aber verlangt der durch Vergleichung gebildete und an reiner Musik sich erlabende Sinn für jene beiden mißbräuchlichen Tendenzen der Musik eine Maskerade: es soll “Erinnerung” und “Aufregung” geblasen werden, aber in guter Musik, die an sich genießbar, ja werthvoll sein muß: welche Verzweiflung für den dramatischen Musiker, der die große Trommel maskiren muß durch gute Musik, die aber doch nicht “rein musikalisch” sondern nur aufregend wirken darf! Und nun kommt das große mit tausend Köpfen wackelnde Philister-Publikum und genießt diese sich immer vor sich selbst schämende “dramatische Musik” mit Haut und Haar, ohne etwas von ihrer Scham und Verlegenheit zu merken. Vielmehr fühlt es sein Fell angenehm gekitzelt: ihm wird ja gehuldigt in allen Formen und Weisen, ihm dem zerstreuungssüchtigen mattäugigen Genüßling, der Aufregung braucht, ihm dem eingebildeten Gebildeten, der an gutes Drama und gute Musik wie an gute Kost sich gewöhnt hat, ohne übrigens viel daraus zu machen, ihm dem vergeßlichen und zerstreuten Egoisten, der zum Kunstwerke mit Gewalt und mit Signalhörnern zurückgeführt werden muß, weil fortwährend ihm eigensüchtige Pläne, auf Gewinn oder Genuß gerichtet, durch den Kopf kreuzen. Wehselige dramatische Musiker! “Beseht die Gönner in der Nähe! Halb sind sie kalt, halb sind sie roh.” “Was plagt ihr armen Thoren viel, zu solchem Zweck, die holden Musen?” [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. 1, V. 123f., 127f. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 11. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1856:8.] Und daß diese von ihnen geplagt, ja gemartert und geschunden werden—sie leugnen es selbst nicht, die aufrichtig-Unglücklichen!
Wir hatten ein leidenschaftliches den Zuhörer fortreißendes Drama vorausgesetzt, das auch ohne Musik seiner Wirkung gewiß sei: ich fürchte, das was an ihm “Dichtung” und nicht eigentliche “Handlung” ist, wird sich zu wahrer Dichtung ähnlich verhalten wie die dramatische Musik zur Musik überhaupt: es wird Erinnerungs- oder Aufregungsdichtung sein. Die Poesie wird als Mittel dienen, um conventionsmäßig an Gefühle und Leidenschaften zu erinnern, deren Ausdruck durch wirkliche Dichter gefunden und mit ihnen berühmt, ja normal geworden ist. Sodann wird ihr zugemuthet werden, der eigentlichen “Handlung,” sei das nun eine kriminalistische Schreckensgeschichte oder eine verwandlungstolle Zauberei, in den gefährlichen Momenten aufzuhelfen und um die Roheit der Aktion selbst einen verhüllenden Schleier zu breiten. Im Gefühl der Scham, daß die Dichtung nur Maskerade ist, die kein Tageslicht verträgt, verlangt nun eine solche “dramatische” Dichterei nach der “dramatischen” Musik: wie anderseits dem Dichterling solcher Dramen wieder der dramatische Musiker auf dreiviertel des Wegs entgegenläuft, mit seiner Begabung zur Trommel und zum Signalhorn und seiner Scheu vor echter, sich vertrauender und selbtgenugsamer Musik. Und nun sehen sie sich und umarmen sich, diese apollinischen und dionysischen Karrikaturen, dieses par nobile fratrum!
Nach dieser Aussicht auf die uns historisch bekannte Oper mit ihrer in “dramatische” Musik auslaufenden Spitze wenden wir uns jenem Opernideale zu, das in analoger Weise entsteht wie das lyrische Volkslied und als griechische Tragödie die reinste und höchste Vereinigung des Dionysischen und Apollinischen darstellt; während dieselben Elemente, in der besagten dramatischen Musik peinlich verzerrt und unselbständig neben einander hergehen, gleich einem Krüppelpaar, das sich sicherer weiß, weil jeder einzelne Krüppel umfallen würde. Von jenem dionysisch-apollinischen Archilochus als dem uns erkennbaren ersten Musi[ker] geht eine neue Kunstbewegung aus, die allmähliche kunstmäßige Entfaltung des Volksliedes zur Tragödie. Gewiß aber läuft diesem sichtbar werdenden Prozeß, der sich in einer Reihe von Künstlern vollzieht, ein andrer Prozeß parallel, der sich ohne die Vermittlung des Künstlers, in der Allmacht der Natur und in viel kürzerer Zeit vollzieht. Wer möchte doch annehmen, nach der Analogie ähnlicher Erscheinungen, daß die dionysische Erregung der Massen, wie sie in jenen ekstatischen Frühlingfesten geboren wird, in Einzelnen ihren Ausdruck bekommt: von welchen Ursprüngen aus dann schneller und schneller in immer größere Kreise der orgiastische Taumel sich ausbreitet. Denken wir uns jetzt eine solche Masse, die mehr und mehr zu einem ungeheuren Individuum zusammenschmilzt, von einer gemeinsamen Traumerscheinung heimgesucht: Dionysus erscheint, alle sehen ihn, alle werfen sich vor ihm nieder. Auch dieses Phänomen, die Mehreren, ja ganzen Massen sichtbar werdende gleiche Vision, wird zu allererst von einem Einzelnen gesehen worden sein, von dem aus die Vision auch alle Anderen ergreift, je mehr, wie ich sagte, die Masse zu einem Individuum zusammenschmilzt. Dies ist der Prozeß, welcher jener langsamen durch ein Jahrhundert sich hinziehenden Entfaltung des Volksliedes zur Tragödie analog ist. Denn hier erkenne ich den Grundbegriff der griechischen Tragödie, daß einem dionysischen Chore, durch eine apollinische Einwirkung, der eigne Zustand sich in einer Vision offenbart: wie im lyrischen Volksliede der zugleich apollinisch und dionysisch erregte Einzelne eine gleiche Vision erleidet. Die gesteigerte, vom Einzelnen zu einem Chore fortschreitende Erregung und die damit erhöhte länger andauernde Sichtbarkeit und Wirksamkeit der Vision dünkt mir der Urprozeß der Tragödie zu sein, aus dem sich das “Drama” die Handlung so erklären läßt, daß jene eben bezeichnete fortschreitende Erregung vom Einzelnen zum ganzen Chore wieder als “Handlung” der Vision, als Lebensäußerung der Visionsgestalt, angeschaut wird. Darum ist, im Ursprung der Tragödie, nur der Chor, in der Orchestra, real, während die Welt der Bühne, die Personen und Vorgänge auf ihr, nur als lebende Bilder, als Scheingestalten der apollinischen Phantasie des Chores sichtbar wurden. Jener Prozeß der allmählichen, vom Einzelnen zum Chore sich ausbreitenden Offenbarung der Vision erscheint wieder als ein Kämpfen und Siegen des Dionysus und versinnlicht sich vor den Augen des Chors. Jetzt schauen wir in die tiefe Nothwendigkeit jener überlieferten Thatsache daß in der ältesten Zeit das Leiden und Siegen des Dionysus der alleinige Inhalt der Tragödie war, ja wir begreifen jetzt sofort, daß jeder andre Held der Tragödie nur als Stellvertreter des Dionysus, gleichsam als eine Maske des Dionysus, verstanden werden muß.