Ende 1870 - April 1871 7 [1-204]
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Inhalt der Abhandlung.
Zwei Grundtriebe der hellenischen Kunst sind erkennbar, der apollinische und der dionysische. Sie vereinigen sich, um eine neue Kunstform, die des tragischen Gedankens, zu erzeugen. Diesem höchsten Kunstziel dient der hellenische Wille in seinen Erscheinungen als Gesellschaft Staat Weib Orakel. Jene Doppelnatur liegt auf dem Gesicht der tragischen Masken und überhaupt der Tragödie geprägt. Der welcher sie im Drama vernichtete, Euripides, folgt darin dem dämonischen Einflusse des Sokrates. Das Ziel der Wissenschaft, welche Socrates inaugurirte, ist die tragische Erkenntniß als Vorbereitung des Genius. Die neue Stufe der Kunst wurde nicht von den Griechen erreicht: es ist die germanische Mission. Die von jener tragischen Erkenntniß herausgeforderte Kunst ist die Musik. Shakespeare’s Verhalten zu ihr. Zweck des Erkennens somit ein aesthetischer. Mittel des Erkennens die Wahngebilde. Die Welt des Scheins als die Welt der Kunst, des Werdens, der Vielheit—ein Gegensatz zur Welt des Ureinen: das gleich dem Schmerz und dem Widerspruch ist.
Zweck der Welt ist das schmerzlose Anschauen, der reine aesthetische Genuß: diese Welt des Scheins steht im Gegensatz zur Welt des Schmerzes und des Widerspruchs. Je tiefer unsre Erkenntniß in das Ursein geht—das wir sind—um so mehr erzeugt sich auch das reine Anschauen des Ureinen in uns. Der apollinische Trieb und der dionysische in fortwährendem Fortschreiten, der eine nimmt immer die Stufe des Andern ein und nöthigt zu einer tieferen Geburt der reinen Anschauung. Dies ist die Entwicklung des Menschen und so als Erziehungsziel zu fassen.
Die griechische Heiterkeit ist die Lust des Willens, wenn eine Stufe erreicht ist: sie erzeugt sich immer neu: Homer, Sophokles, das Johannesevangelium—drei Stufen derselben. Homer als Triumph der olympischen Götter über die titanischen Graunmächte. Sophokles als der Triumph des tragischen Gedankens und Besiegung des aeschyleischen Dionysusdienstes. Das Johannesevangelium als Triumph der Mysterienseligkeit, der Heiligung.
Lösung des Schopenhauerischen Problems: die Sehnsucht in’s Nichts. Nämlich—das Individuum ist nur Schein: wenn es Genius wird, so ist es Lustziel des Willens. D. h. das Ureine, ewig leidend, schaut ohne Schmerz an. Unsre Realität ist einmal die des Ureinen, Leidenden: andrerseits die Realität als Vorstellung jenes Ureinen.— Jene Selbstaufhebung des Willens, Wiedergeburt usw. ist deshalb möglich, weil der Wille nichts als Schein selbst ist und das Ureine nur in ihm eine Erscheinung hat.
Moralität und Religion sind ins Bereich der aesthetischen Absichten zu ziehen. Freier Wille (Vorstellung der Aktivität, des Lebens überhaupt)—Mitleid. Die “Realität” ist die unreine Anschauung d. h. Schmerz und Widerspruch und Anschauung gemischt.