Sommer bis Ende Sept. 1875 12 [1-33]
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Wenn eine Vielheit dieselbe Noth erlitte, wie er sie leidet—das wäre Volk, sagt er sich. Dann würden ihre gleichen Bedürfnisse auch gleich befriedigt. Sieht er nun zu, was ihn selbst in seiner Noth am tiefsten tröstet und beseeligt, so findet er den Mythus und die Musik: hier empfängt er die tiefste Befriedigung, also muß er hier auch am tiefsten bedürfen, und Noth sein. Die Musik ist nun eine Ausnahmekunst, nicht dem Luxus dienstbar, sondern entstanden wie ein Trost der Niedrigen und Schlichten, er findet eine herrliche Zusammengehörigkeit beider und fühlt seine Kraft zum Drama als verbindende Kraft zwischen diesen Sphären. Sein Kunstwerk, das auf ihn jetzt so unvergleichlich wirkt, stellt er als eine Frage auf: wo sind die, auf welche es gleich wirkt? Diese werden auch gleich leiden und bedürfen, wie ich. Eine Vielheit von uns ist das Volk, das wir ersehnen. Nun erlebt er eine schreckliche Enttäuschung, obwohl er durch Schriften nachhilft; alles ist befremdet, man mißt nach alten Maßstäben, man kritisirt nach alter Weise herum, man fühlt nicht die neue Frage. Er verzweifelt, denn das Volk ist nicht da, seine Noth wird nicht empfunden, sein Kunstwerk ist eine Mittheilung an Taube und Blinde, die Aussicht auf Wirkung und Macht ist hoffnungslos. Er taumelt und geräth ins Schwanken. Die Möglichkeit eines Umsturzes der Dinge steht als Hoffnung vor ihm, vielleicht daß hinterher wieder zu pflanzen ist.— In Kürze ist er politischer Flüchtling und im Elend. Es ist die zweite große Krisis.
Vereinsamt, die Zeit erscheint ihm nichtig, er hat sich ganz auf sich zurückgezogen, keine Hoffnung mehr. Er streift jetzt jede Rücksicht auf Wirkung ab, alles Verführerische und Anfragende, das Verständniß Erleichternde, und spricht nur mit sich. Sein Weltblick wendet sich in die Tiefe, er sieht das Leiden im Fundament und reinigt sich von allem Optimismus. Sehnsucht aus dem Tag in die Nacht, Tristan. Er findet die deutsche lutherische Heiterkeit wieder, die andere Völker nicht begreifen, durchgegohrne Meisterschaft der M[eister]singer. Es kommen Freunde heran; viele beinahe gefährlich, sie wollen ihn dogmatisiren usw. Er geht hindurch unberührt, es handelt sich nicht mehr um Aesthetik und Musik für ihn. Ein ungeheures Werk, der Gesammtausdruck seiner Einsicht und Aussicht, mit einem wunderbaren metaphysischen Schwanken am Schluß. Macht resignirt aus Liebe. Er will dieses Werk zeigen, das Kunstwerk der Zukunft: während das jetzt nicht die Zukunft ist, auf die er rechnet. Der Krieg, symbolisch verstanden, giebt Muth.