Sommer bis Ende Sept. 1875 12 [1-33]
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Um zu erklären, was ich unter Wagner’s zusammenziehender Kraft, unter dem Wort, er sei ein Vereinfacher der Welt, verstehe, schicke ich dies voraus. Er fand zwei neue Probleme, das der Musik und das des Drama’s: er fand sie dort, wo alle großen Probleme liegen, auf der Gasse, vor Jedermanns Füßen und doch allen Augen verborgen. Was bedeutet es, daß der neuerer Zeit gerade eine solche Kunst wie die der Musik ersteht? Ist dies nicht ein Widerspruch für jeden, der das Bild dieser Zeit sich vor die Seele stellt? Muß er nicht sagen: aus dieser Zeit konnte die Musik nicht entstehn: was ist dann ihre Existenz? Ein Zufall? Aber erst könnte ein einzelner Meister zufällig sein, das Erscheinen einer solchen Reihe von Leuchten und Sonnen zeigt doch wahrlich, daß nicht an Kometen-Erscheinung zu denken ist. Wagner giebt nun eine Antwort: die Existenz der Musik hängt mit der Stärke der modernen Zeit zusammen, diese aber hat ungeheure Schwächen anderer Organe mit sich gebracht: und dieser erkrankte und erschöpfte Zustand ist es, dem in der Musik ein Heilmittel erwächst. Einmal hat sie ein Verhältniß zur Sprache, als eine universal vorwortliche Sprache zu der ganz ausgeraubten entkräfteten rhetorisch und poetisch vernützten Sprache: die allgemeine Erkrankung aller Sprechenden, die Unfähigkeit, sich noch wirklich mit einander zu verständigen: wenn schon die Poesie für jeden jetzt dichtet, so denkt jetzt die Sprache für jeden, er ist der Sklave derselben und niemand hat noch Individualität in diesem ungeheuren Zwang. Man muß, durch Musik gehoben, einmal sich so fern gestellt fühlen, daß man in allem, was gesprochen wird, geschrieben wird, das typisch Gleichartige wahrnimmt: dann kommt es einem so vor, als ob alle individuelle Bildung unmöglich sei, weil sie versucht, auf dem Wort sich zu gründen; und das reißt jetzt jeden in die alten Bahnen. Zweitens fühlte Wagner die Stellung der Musik zu der jetzt sichtbaren Erscheinungswelt des modernen Lebens: sie ist bildlos und deshalb antagonistisch allem Gebilde. Nun zeigt [sich] ebenfalls in allem, worin der Mensch jetzt an der Erscheinung herum bildet, eine unsägliche Erschöpfung: alles Dagewesene, alles schöner dagewesen, selbst das Häßliche ist erhabner dagewesen. Das Gehen Stehen und sich Bewegen, die Form der Geselligkeit, die Manieren der öffentlichen Sprecher, die Geberden der Jünglinge, die Künste der Frauen: alles, alles worin frühere Zeiten den Leib gebildet haben und zum Spiegel schöner oder großer Bewegungen gemacht haben, ist ganz verkommen oder späte Nachahmung: bestenfalls ist alles Renaissance und zwar Nachblüthe derselben (die französische Civilisation). Faßt man hier die Musik als den Antagonisten der Gymnastik, so ist in ihr jedenfalls ein Punkt gewonnen, von wo aus einem das moderne Leben widerlich barbarisch vorkommt. Denn der, welcher in dem rhythmischen Gange der großen Musik lebt, erkennt zuerst an sich und von da aus an allen andern, wie unfähig er für gewöhnlich ist, diesem reinen und erhöhten und doch machtvoll bewegten Innenleben der Musik etwas entgegenzustellen, was als Bild, als Erscheinung, dazu gehöre: während er gewöhnlich nur den peinlichen Eindruck bei diesem Suchen hat, daß er in ein Durcheinander von Verzerrungen und Übertreibungen hineinblicke. Nun ist der Eindruck der Musik selbst so stark, daß nicht nur der Rhythmus der Gymnastik vor ihm sich auszuweisen hat: alles, was ein rhythmisches Verhalten an sich hat, die ganze Lebensordnung von Individuen, die Politik von Völkern, das Verhalten der Handelsinteressen zu einander, der Kampf der Stände, das Widerspiel zwischen Volk und Nichtvolk—unwillkürlich wird es der mit Musik erfüllte Mensch an der Musik messen und verurtheilen: er begreift es, was es heißen will, einen Staat auf Musik zu gründen, was die Griechen nicht nur begriffen hatten, sondern auch forderten. Und zwar ist es auch nicht allein das Rhythmische; auch das Seelenvolle Ehrliche in der unpersönlichen Leidenschaft und doch das aus unerschöpflicher Tiefe aufquellende ruhige Feuer der Musik—dies alles wird ihm zum Richter seiner modernen Welt.
So verurtheilt Wagner diese Welt, weil sie dem Ideal, das er nicht als Bild aber als Seele der Musik in sich trägt, nicht entspricht. Er würde sie verneinen und aufheben müssen, wenn er nur Musiker wäre. Und in der That ist es sein tiefer Gegensatz gegen alle sonstigen Musiker unserer Zeit, daß sie von sich aus nicht diese Verneinung und Aufhebung wollen; er schließt daraus, daß sie jenes Feuer eben nicht im Leibe haben und in Folge dessen keine rechten Musiker sind. Entweder verneint euch als Musiker, hört auf welche zu sein oder hebt die Welt vermöge eurer inneren Kraft aus den Angeln—so ruft er ihnen zu.
Diese Verneinung kann nun verschiedenartig gedacht werden: revolutionär oder asketisch. Im ersten Falle wird der Musiker zuerst darauf sinnen, der Musik eine einflußreiche Stellung zu verschaffen, er wird ihre Verkümmerungen, ihre verächtliche Lage, ihren Mißbrauch zu leeren folgenlosen Unterhaltungen bekämpfen: indem er durch seine ernste Musik die Individuen weiht und zu Werkzeugen der umwälzenden Macht der Musik macht, wird er hoffen können, überall hin seinen Einfluß zu tragen: wer möchte z. B. zweifeln, daß eine Gesellschaft, die den wahren Geist Beethovenscher Musik in sich aufgenommen hat, unserer jetzigen Gesellschaft, in Staatsform Erziehung usw., sehr wenig ähnlich sehen würde! Zweitens kann jene Verneinung der gegenwärtigen Erscheinung leicht noch zu einer weiteren Stufe der Verneinung führen. Wer, wie Schopenhauer, in der Musik eine Welt hinter dieser Welt sieht, die noch nicht in die Form der Individuation eingegangen ist, und wer andererseits gerade den gebrechlichen tief hoffnungslosen Charakter des Lebens aus der trennenden Gewalt der Indiv[iduation] ableitet, muß in der Musik die wenngleich begriffs- und bildlose Conception einer besseren Welt machen, einer unschuldigen, liebevollen, heiter-tiefsinnigen.
Ganz auf diese Welt sich zurückziehend steht der Musiker dann, wie Wagner es an Beethoven geschildert hat, beinahe in der Sphäre der Heiligkeit: die unvergleich[liche] Reinheit Bewegtheit Gluth die kindliche Unmittelbarkeit, der völlige Mangel der Verstellung, die Abwesenheit der Convention das ist der Musik eigen, nicht den andern Künsten, die eben der Erscheinungswelt als Abbilder zu nahe stehen.
Hiermit könnte es nun erscheinen, daß ein Nebeneinander der Musik und der Erscheinungswelt eben ein Mißgebilde sein müsse, daß ihre Unverträglichkeit gerade fest stünde. Hier nun machte Wagner seinen zweiten Fund, er fand das Problem des Drama’s wieder. Der Mensch, der die Seele der Musik in sich aufgenommen hat und von diesem Erfülltsein aus auf die allgemeine Natur und das Loos der Menschen zu allen Zeiten hinblickt, thut dies nicht mit Ekel, mit Haß: sondern so wie Beethoven die Natur in der Pastorale sieht, mit Liebe, mit einem alles verstehenden Mitleid. [Vgl. Richard Wagner, Über Beethoven (1870). In: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 9. Leipzig: Fritzsch, 1873:113f.] In größeren Bildern des menschlichen Wollens sieht er die Art seines eigenen Wollens, nur mit Wahn und trügerischen Zielen vor sich, so daß er das tragische Ergebniß dieses individuellen Wollens vorhersehen kann. Als Seele der Musik faßt er gerade die Liebe: und gerade das, was er am meisten in seiner Hoffnungslosigkeit des Strebens durchschaut, muß er am meisten lieben. [Vgl. Richard Wagner, Eine Mittheilung an meine Freunde (1851). In: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 4. Leipzig: Fritzsch, 1872:325.] Andererseits ist der große Musiker als Abbild des universalen Willens, in einer natürlichen Sympathie für das Individuum, das sich in der Ausdehnung seines Wollens dem universalen Willen nähert; das Feuer, das ihn durch’s Leben führt, erkennt er als verwandt dem Feuer der in ihm waltenden Musik an: nur daß der Wille, der in der Musik erscheint, reiner unschuldiger und trugloser ist und bereits als unpersönlich gewordener Wille dem Eingang zur Selbstverneinung und dem Zustand der Heiligkeit sich nähert, von dem der ringende Held noch ferne ist: zwar vielleicht nicht so weit, denn gerade wegen der Heftigkeit seines Ringens kann er plötzlich einmal von der Einsicht in die Erfolglosigkeit überrascht werden.