Sommer bis Ende Sept. 1875 12 [1-33]
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Es giebt nichts Hoffnungsloseres, als von solchen complicirten und seltenen Zuständen der Seele zu Anderen zu sprechen, wenn diese nicht selber durch die Erinnerung an eigne ähnliche wenn auch vielfach schwächere Zustände und durch ein beschauliches Suchen in ihrem Innern dem Sprechenden auf halbem Wege entgegenkommen. Solche bereite Zuhörer aber vorausgesetzt, halte ich es allerdings für möglich, den ganz eigenen und einzigen Eindruck einer großen Begabung allmählich so deutlich für die Empfindung auszuprägen, daß wir von der entscheidenden Sicherheit dieses Eindrucks aus unwillkürlich auf jenen Zustand zurückschließen, in welchem der Künstler sich zum Schaffen gedrängt fühlt, d. h. den Eindruck der Welt auf sich als einen Anruf seiner eigensten Kraft empfindet. Auf ein Mitwissen um diesen Zustand kommt aber alles an, und jede Beschäftigung mit Kunst kann bei dem Nichtkünstler nur dies Ziel haben, zuletzt einen Eingang zu jenen sonst verborgenen Seelen-Mysterien zu entdecken, in denen das Kunstwerk geboren wird. Der Künstler ist nur gerade als Mittheilender über diese Mysterien Künstler; er will uns durch seine Art zu sprechen und sich mitzutheilen zu Mit-Eingeweihten machen, er will mit seinem Werke auf etwas hinweisen, was vor dem Werk, hinter dem Werk ist. “Die Natur ist nach Innen zu viel reicher, gewaltiger, seliger, furchtbarer, ihr kennt sie nicht, so wie ihr gewöhnlich lebt!” ruft uns der Künstler zu, “nun folgt mir einmal und laßt das trüberleuchtete Stück Natur und Leben, welches ihr allein als wirklich zu kennen scheint, hinter euch. Ich führe euch in ein Reich, das ebenfalls wirklich ist: ihr selber sollt sagen, wenn ihr aus meiner Höhle in euren Tag zurückkommt, welches Leben wirklicher ist!”
Wenn bis zu irgend einem Grade dies die Stimme jedes großen Künstlers an uns ist, so doch vor Allem die Stimme Wagner’s. Das, wozu sie uns ladet, ist Rückkehr zur Natur; und in diesem Zusammenhang darf man am wenigsten fürchten, Mißverständnisse mit solch einem Worte zu erregen. Es handelt sich wahrhaftig nicht um eine bequeme Entschließung, sich einmal natürlich zu geben und in einer idyllischen Schlichtheit zu lustwandeln: so harmlos war jene Aufforderung nicht gemeint. Der Künstler weiß recht wohl, daß wir Alle, wenn er nicht den Weg uns zeigt, niemals den Eingang in die noch unbekannt gebliebene Urwelt der Natur finden werden. Denn übermächtig ist die Last, die auf uns liegt; ein Schleier aus kalten und künstlichen Begriffen und Lehrmeinungen gesponnen hält unser Auge; unser Gefühl regt sich kaum gegen die Gewohnheit der verwickeltsten und härtesten Gesetzbarkeiten oder regt sich in falschem Takte, wir haben auch die Sprache des Gefühls verlernt: so sind wir viel zu schwach und können gar nicht so weit aus eignen Kräften gehen, um die Natur zu finden. Aber auch die Hand unseres Ermahners und Befreiers ist übermächtig: er führt uns, ohne daß wir sehen, wohin: bis wir plötzlich fühlen und hören und mit allen Sinnen auf einmal wissen, wo wir stehen—in der freien Natur, und selber verwandelt zu natürlich Freien.
Die Bedeutung der Musik. Befreiung der Musik. Das Improvisatorische. Wagner unterjocht. Das Demosthenische. Wagner als Dichter, als Prosaiker. Das Adstringirende.