Herbst 1881 11 [101-200]
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Das Wesen jeder Handlung ist dem Menschen so unschmackhaft wie das Wesentliche jeder Nahrung: er würde lieber verhungern als es essen, so stark ist sein Ekel zumeist. Er hat Würzen nöthig, wir müssen zu allen Speisen verführt werden: und so auch zu allen Handlungen. Der Geschmack und sein Verhältniß zum Hunger, und dessen Verhältniß zum Bedürfniß des Organismus! Die moralischen Urtheile sind die Würzen. Der Geschmack wird aber hier wie dort als das angesehen, was über den Werth der Nahrung, Werth der Handlung entscheidet: der größte Irrthum!
Wie verändert sich der Geschmack? Wann wird er laß und unfrei? Wann ist er tyrannisch?— Und ebenso bei den Urtheilen über gut und böse; eine physiologische Thatsache ist der Grund jeder Veränderung im moralischen Geschmack; diese physiologische Veränderung ist aber nicht etwas, das nothwendig das dem Organismus Nützliche jeder Zeit forderte. Sondern die Geschichte des Geschmacks ist eine Geschichte für sich, und ebenso sehr sind Entartungen des Ganzen als Fortschritte die Folgen dieses Geschmacks. Gesunder Geschmack, kranker Geschmack—das sind falsche Unterscheidungen—es giebt unzählige Möglichkeiten der Entwicklung: was jedesmal zu der einen hinführt, ist gesund: aber es kann widersprechend einer anderen Entwicklung sein. Nur in Hinsicht auf ein Ideal, das erreicht werden soll, giebt es einen Sinn bei “gesund” und “krank.” Das Ideal aber ist immer höchst wechselnd, selbst beim Individuum (das des Kindes und des Mannes!)—und die Kenntniß, was nöthig ist, es zu erreichen, fehlt fast ganz.
Wir gehen unserem Geschmack nach und benennen es mit den erhabensten Worten, als Pflicht und Tugend und Opfer. Das Nützliche erkennen wir nicht, ja wir verachten es, wie wir das Innere des Leibes verachten, alles ist uns nur erträglich wenn es sich in eine glatte Haut versteckt.