Herbst 1881 11 [101-200]
11 [130]
Unsere Triebe und Leidenschaften sind ungeheure Zeiträume hindurch in Gesellschafts- und Geschlechtsverbänden gezüchtet worden (vorher wohl in Affen-Heerden): so sind sie als sociale Triebe und Leidenschaften stärker als als individuelle, auch jetzt noch. Man haßt mehr, plötzlicher, unschuldiger (Unschuld ist den ältest vererbten Gefühlen zu eigen) als Patriot als als Individuum; man opfert schneller sich für die Familie als für sich: oder für eine Kirche, Partei. Ehre ist das stärkste Gefühl für Viele d. h. ihre Schätzung ihrer selber ordnet sich der Schätzung Anderer unter und begehrt von dort seine Sanktion.— Dieser nicht individuelle Egoismus ist das Ältere, Ursprünglichere; daher so viel Unterordnung, Pietät (wie bei den Chinesen) Gedankenlosigkeit über das eigene Wesen und Wohl, es liegt das Wohl der Gruppe uns mehr am Herzen. Daher die Leichtigkeit der Kriege: hier fällt der Mensch in sein älteres Wesen zurück.— Die Zelle ist zunächst mehr Glied als Individuum; das Individuum wird im Verlauf der Entwicklung immer complicirter, immer mehr Gliedergruppe, Gesellschaft. Der freie Mensch ist ein Staat und eine Gesellschaft von Individuen.— Die Entwicklung der Heerden-Thiere und gesellschaftlichen Pflanzen ist eine ganz andere als die der einzeln lebenden.— Einzeln lebende Menschen, wenn sie nicht zu Grunde gehen, entwickeln sich zu Gesellschaften, eine Menge von Arbeitsgebieten wird entwickelt, und viel Kampf der Triebe um Nahrung Raum Zeit ebenfalls. Die Selbstregulirung ist nicht mit Einem Male da. Ja, im Ganzen ist der Mensch ein Wesen, welches nothwendig zu Grunde geht, weil es sie noch nicht erreicht hat. Wir sterben alle zu jung aus tausend Fehlern und Unwissenheiten der Praxis.— Der freieste Mensch hat das größte Machtgefühl über sich, das größte Wissen über sich, die größte Ordnung im nothwendigen Kampfe seiner Kräfte, die verhältnißmäßig größte Unabhängigkeit seiner einzelnen Kräfte, den verhältnißmäßig größten Kampf in sich, er ist das zwieträchtigste Wesen und das wechselreichste und das langlebendste und das überreich begehrende, sich nährende, das am meisten von sich ausscheidende und sich erneuernde. [Vgl. Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre. Leipzig: Engelmann, 1881.]