Herbst 1881 11 [101-200]
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Der Egoism ist etwas Spätes und immer noch Seltenes: die Heerden-Gefühle sind mächtiger und älter! Z. B. noch immer schätzt sich der Mensch so hoch als die Anderen ihn schätzen (Eitelkeit) Noch immer will er gleiche Rechte mit den Anderen und hat ein Wohlgefühl bei dem Gedanken daran, auch wenn er die Menschen gleich behandelt (was doch der Gerechtigkeit des suum cuique sehr zuwiderläuft!) Er faßt sich gar nicht als etwas Neues in’s Auge, sondern strebt sich die Meinungen der Herrschenden anzueignen, ebenfalls erzieht er seine Kinder dazu. Es ist die Vorstufe des Egoismus, kein Gegensatz dazu: der Mensch ist wirklich noch nicht mehr individuum und ego; als Funktion des Ganzen fühlt er seine Existenz noch am höchsten und am meisten gerechtfertigt. Deshalb läßt er über sich verfügen, durch Eltern Lehrer Kasten Fürsten, um zu einer Art Selbstachtung zu kommen—selbst in der Liebe ist er viel mehr der Bestimmte als der Bestimmende. Gehorsam Pflicht erscheint ihm als “die Moral” d. h. er verherrlicht seine Heerdentriebe, indem er sie als schwere Tugenden hinstellt.— Auch im erwachten Individuum ist der Urbestand der Heerdengefühle noch übermächtig und mit dem guten Gewissen verknüpft. Der Christ mit seinem extra ecclesiam nulla salus ist grausam gegen die Gegner der christlichen Heerde; der Staatsbürger verhängt schreckliche Strafen über den Verbrecher, nicht als ego, sondern aus dem alten Instinkte—die That der Grausamkeit des Mordes der Sklaverei (Gefängniß) beleidigt ihn nicht, sobald ersie vom Heerdeninstinkt aus ansieht.— Alle freieren M[enschen] des Mittelalters glaubten, vor allem sei das Heerdengefühl zu erhalten, das seltene Individuum müsse in dieser Hinsicht Verstellung üben, ohne Hirten und den Glauben an allgemeine Gesetze gehe alles drunter und darüber. Wir glauben das nicht mehr—weil wir gesehen haben, daß der Hang zur Heerde so groß ist, daß er immer wieder durchbricht, gegen alle Freiheiten des Gedankens! Es giebt eben noch sehr selten ein ego! Das Verlangen nach Staat, socialen Gründungen, Kirchen usw. ist nicht schwächer geworden. v[ide] die Kriege! Und die “Nationen”!