Herbst 1881 11 [101-200]
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Im Grunde ist die Wissenschaft darauf aus, festzustellen, wie der Mensch—nicht das Individuum—zu allen Dingen und zu sich selber empfindet, also die Idiosyncrasie Einzelner und Gruppen auszuscheiden und das beharrende Verhältniß festzustellen. Nicht die Wahrheit, sondern der Mensch wird erkannt und zwar innerhalb aller Zeiten, wo er existirt. D. h. ein Phantom wird construirt, fortwährend arbeiten alle daran, um das zu finden, worüber man übereinstimmen muß, weil es zum Wesen des Menschen gehört. Dabei lernte man, daß Unzähliges nicht wesenhaft war, wie man lange glaubte, und daß mit der Feststellung des Wesenhaften nichts für die Realität bewiesen sei als daß die Existenz des Menschen bis jetzt vom Glauben an diese “Realität” abgehangen hat (wie Körper Dauer der Substanz usw.) Die Wissenschaft setzt also den Prozeß nur fort, der das Wesen der Gattung constituirt hat, den Glauben an gewisse Dinge endemisch zu machen und den Nichtglaubenden auszuscheiden und absterben zu lassen. Die erreichte Ähnlichkeit der Empfindung (über den Raum, oder das Zeitgefühl oder das Groß- und Kleingefühl) ist eine Existenzbedingung der Gattung geworden, aber mit der Wahrheit hat es nichts zu thun. Der “Verrückte” die Idiosyncrasie beweisen nicht die Unwahrheit einer Vorstellung, sondern deren Abnormität; es läßt sich mit ihr nicht für eine Masse leben. Es ist der Masseninstinkt, der auch in der Erkenntniß waltet: ihre Existenzbedingungen will sie immer besser erkennen, um immer länger zu leben. Uniformität der Empfindung, ehemals durch Gesellschaft Religion erstrebt, wird jetzt durch die Wissenschaft erstrebt: der Normalgeschmack an allen Dingen festgestellt, die Erkenntniß, ruhend auf dem Glauben an das Beharrende, steht im Dienste der gröberen Formen des Beharrens (Masse Volk Menschheit) und will die feineren Formen, den idiosyncrasischen Geschmack ausscheiden und tödten—sie arbeitet gegen die Individualisirung, den Geschmack, der nur für Einen Lebensbedingung ist.— Die Gattung ist der gröbere Irrthum, das Individuum der feinere Irrthum, es kommt später. Es kämpft für seine Existenz, für seinen neuen Geschmack, für seine relativ einzige Stellung zu allen Dingen—es hält diese für besser als den Allgemeingeschmack und verachtet ihn. Es will herrschen. Aber da entdeckt es, daß es selber etwas Wandelndes ist und einen wechselnden Geschmack hat, mit seiner Feinheit geräth es hinter das Geheimniß, daß es kein Individuum giebt, daß im kleinsten Augenblick es etwas Anderes ist als im nächsten und daß seine Existenzbedingungen die einer Unzahl Individuen sind: der unendlich kleine Augenblick ist die höhere Realität und Wahrheit, ein Blitzbild aus dem ewigen Flusse. So lernt es: wie alle genießende Erkenntniß auf dem groben Irrthum der Gattung, den feineren Irrthümern des Individuums, und dem feinsten Irrthum des schöpferischen Augenblicks beruht.