April-Juni 1885 34 [1-100]
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Was ist denn diese ungeheure Macht, welche dermaaßen seit 2 Jahrtausenden die Philosophen narrt und die Vernunft der Vernünftigen zu Falle bringt? Jener Instinkt, jener Glaube, wie ihn das Christenthum verlangt: das ist der Heerden-Instinkt selber, der Heerden-Glaube des Thiers “Mensch,” das Heerden-Verlangen nach der vollkommenen Unterwerfung unter eine Autorität—(dasselbe, was aus dem deutschen Heerden-Instinkte heraus Kant den “kategorischen Imperativ” getauft hat.) In der That ist es die größte Erleichterung und Wohlthat, für gefährdete schwankende zarte schwache Heerden-Thiere, einen absolut Befehlenden, einen Leithammel zu bekommen: es ist ihre erste Lebensbedingung. [Vgl. Francis Galton, Inquiries into Human Faculty and its Development. London: Macmillan, 1883:73f.] Die Brahmanen verstanden sich auf diese Erleichterung, die Jesuiten ebenfalls, fast in allen Klöstern ist der Grund-Hang dieser: endlich einmal der ewigen Agitation, welche das Selbst-Sich-Befehlen mit sich bringt, los zu werden. Dieser Instinkt zum Glauben ist auch der eigentlich weibliche Instinkt; und wenn die Weiber Einen unerbittlichen Lehrer finden, der von ihnen Gehorsam und Niederwerfung will, oder auch nur einen Künstler, der das Weib in der Attitüde seiner “Vollkommenheit,” als; anbetendes hingebendes hingegebenes Geschöpf, als Opfer zeigt, wie z. B. R[ichard] W[agner], da sind sie vor Glück “außer sich”: nämlich in ihrem letzten Instinkte vor sich selber bestätigt und befriedigt.— In schwächerer Form sieht man es an den Franzosen, die, als die liebenswürdigsten Europäer, auch die heerdenmäßigsten sind: es wird ihnen nur wohl, wenn sie vor ihrem esprit es sich erlauben dürfen, einmal “unbedingt zu gehorchen”: wie vor dem Napoleon. Oder auch vor “den Ideen der französischen Revolution”—oder auch vor Victor Hugo (welcher sein langes Leben lang diesem allerschönsten Heerden-Instinkte immer im Namen der Freiheit schöne Worte und Prunkmäntel umgehängt hat).— Das Alterthum war, als das Christenthum kam, inwendig durch Gegensätze der Werthschätzungen hin- und hergerissen (in Folge der physiologischen Bedingung des unsinnigen Gleichheits-Begriffs civis Romanus oder von jener unsinnigen Staats-Erweiterung des imperium Romanum) und das Christenthum gab die große Erleichterung.