April-Juni 1885 34 [1-100]
34 [92]
Man verdankt der christlichen Kirche
1) eine Vergeistigung der Grausamkeit: die Vorstellung der Hölle, die Foltern und Ketzergerichte, die Autodafés sind doch ein großer Fortschritt gegen die prachtvolle aber halb blödsinnige Abschlächterei in den römischen Arenen. Es ist viel Geist, viel Hintergedanke in die Grausamkeit gekommen.— Sie hat viele Genüsse erfunden.
2) sie hat den Europäer-Geist fein und geschmeidig gemacht, durch ihre “Intoleranz.” Man sieht es sofort, wie in unserem demokratischen Zeitalter, mit der Freiheit der Presse, der Gedanke plump wird. Die Deutschen haben das Pulver erfunden—alle Achtung! Aber sie haben es wieder quitt gemacht: sie erfanden die Presse. Die antike Polis war ganz ebenso gesinnt. Das römische Reich ließ umgekehrt große Freiheit im Glauben und Nichtglauben: mehr als heute irgend ein Reich läßt: die Folge war sofort die allergrößte Entartung Vertölpelung und Vergröberung des Geistes.— Wie gut nimmt sich Leibnitz und Abälard, Montaigne, Descartes und Pascal aus! Die geschmeidige Verwegenheit solcher Geister zu sehn ist ein Genuß, welchen man der Kirche verdankt.— Der intellektuelle Druck der Kirche ist wesentlich die unbeugsame Strenge, vermöge deren die Begriffe und Werthschätzungen als festgestellt, als aeternae behandelt werden. Dante giebt einen einzigen Genuß dadurch: man braucht unter einem absoluten Regimente keineswegs beschränkt zu sein. Wenn es Schranken gab, so waren sie um einen ungeheuren Raum gespannt, Dank Plato: und man konnte sich darin bewegen, wie Bach in den Formen des Contrapunkts, sehr frei.— Baco und Shakespeare widern fast an, wenn man diese “Freiheit unter dem Gesetz” gründlich schmecken gelernt hat. Ebenso die neueste Musik im Vergleich zu Bach und Händel.