Sommer 1886 - Herbst 1887 5 [1-110]
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Der europäische Nihilismus.
| Lenzer Heide | den 10. Juni 1887 |
1.
Welche Vortheile bot die christliche Moral-Hypothese?
1) sie verlieh dem Menschen einen absoluten Werth, im Gegensatz zu seiner Kleinheit und Zufälligkeit im Strom des Werdens und Vergehens
2) sie diente den Advokaten Gottes, insofern sie der Welt trotz Leiden und Übel den Charakter der Vollkommenheit ließ,—eingerechnet jene “Freiheit”—das Übel erschien voller Sinn.
3) sie setzte ein Wissen um absolute Werthe beim Menschen an und gab ihm somit gerade für das Wichtigste adäquate Erkenntniß
sie verhütete, daß der Mensch sich als Menschen verachtete, daß er gegen das Leben Partei nahm, daß er am Erkennen verzweifelte: sie war ein Erhaltungsmittel—in summa: Moral war das große Gegenmittel gegen den praktischen und theoretischen Nihilismus.
2.
Aber unter den Kräften, die die Moral großzog, war die Wahrhaftigkeit: diese wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre Teleologie, ihre interessirte Betrachtung—und jetzt wirkt die Einsicht in diese lange eingefleischte Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzuthun, gerade als stimulans. Zum Nihilismus. Wir constatiren jetzt Bedürfnisse an uns, gepflanzt durch die lange Moral-Interpretation, welche uns jetzt als Bedürfnisse zum Unwahren erscheinen: andererseits sind es die, an denen der Werth zu hängen scheint, derentwegen wir zu leben aushalten. Dieser Antagonismus, das was wir erkennen, nicht zu schätzen und das, was wir uns vorlügen möchten, nicht mehr schätzen zu dürfen:—ergiebt einen Auflösungsprozeß.
3.
Thatsächlich haben wir ein Gegenmittel gegen den ersten Nihilismus nicht mehr so nöthig: das Leben ist nicht mehr dermaaßen ungewiß, zufällig, unsinnig, in unserem Europa. Eine solch ungeheure Potenzirung vom Werth des Menschen, vom Werth des Übels usw. ist jetzt nicht so nöthig, wir ertragen eine bedeutende Ermäßigung dieses Werthes, wir dürfen viel Unsinn und Zufall einräumen: die erreichte Macht des Menschen erlaubt jetzt eine Herabsetzung der Zuchtmittel, von denen die moralische Interpretation das stärkste war. “Gott” ist eine viel zu extreme Hypothese.
4.
Aber extreme Positionen werden nicht durch ermäßigte abgelöst, sondern wiederum durch extreme, aber umgekehrte. Und so ist der Glaube an die absolute Immoralität der Natur, an die Zweck- und Sinnlosigkeit der psychologisch nothwendige Affekt, wenn der Glaube an Gott und eine essentiell moralische Ordnung nicht mehr zu halten ist. Der Nihilismus erscheint jetzt, nicht weil die Unlust am Dasein größer wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen “Sinn” im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden ist. Eine Interpretation gieng zu Grunde; weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei.
5.
Daß dies “Umsonst!” der Charakter unseres gegenwärtigen Nihilismus ist, bleibt nachzuweisen. Das Mißtrauen gegen unsere früheren Werthschätzungen steigert sich bis zur Frage “sind nicht alle ‘Werthe’ Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näher kommt?” Die Dauer, mit einem “Umsonst,” ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke, namentlich noch wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht, sich nicht foppen zu lassen.
6.
Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: “die ewige Wiederkehr.”
Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das “Sinnlose”) ewig!
Europäische Form des Buddhismus: Energie des Stoffes und der Kraft zwingt zu einem solchen Glauben. Es ist die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen. Wir leugnen Schluß-Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein.
7.
Da begreift man, daß hier ein Gegensatz zum Pantheismus angestrebt wird: denn “Alles vollkommen, göttlich, ewig” zwingt ebenfalls zu einem Glauben an die “ewige Wiederkunft.” Frage: ist mit der Moral auch diese pantheistische Ja-stellung zu allen Dingen unmöglich gemacht? Im Grunde ist ja nur der moralische Gott überwunden. Hat es einen Sinn, sich einen Gott jenseits von “Gut und Böse” zu denken? Wäre ein Pantheismus in diesem Sinne möglich? Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozesse weg und bejahen wir trotzdem den Prozeß?— Das wäre der Fall, wenn Etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Momente desselben erreicht würde—und immer das Gleiche
Spinoza gewann eine solche bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine logische Nothwendigkeit hat: und er triumphirte mit seinem logischen Grundinstinkte über eine solche Weltbeschaffenheit.
8.
Aber sein Fall ist nur ein Einzel-Fall. Jeder Grundcharakterzug, der jedem Geschehen zu Grunde liegt, der sich an jedem Geschehen ausdrückt, müßte, wenn er von einem Individuum als sein Grundcharakterzug empfunden würde, dieses Individuum dazu treiben, triumphirend jeden Augenblick des allgemeinen Daseins gut zu heißen. Es käme eben darauf an, daß man diesen Grundcharakterzug bei sich als gut, werthvoll, mit Lust empfindet.
9.
Nun hat die Moral das Leben vor der Verzweiflung und dem Sprung ins Nichts bei solchen Menschen und Ständen geschützt, welche von Menschen verwaltthätigt und niedergedrückt wurden: denn die Ohnmacht gegen Menschen, nicht die Ohnmacht gegen die Natur, erzeugt die desperatischste Verbitterung gegen das Dasein. Die Moral hat die Gewalthaber, die Gewaltthätigen, die “Herren” überhaupt als die Feinde behandelt, gegen welche der gemeine M geschützt, d. h. zunächst ermuthigt, gestärkt werden muß. Die Moral hat folglich am tiefsten hassen und verachten gelehrt, was der Grundcharakterzug der Herrschenden ist: ihr Wille zur Macht. Diese Moral abschaffen, leugnen, zersetzen: das wäre den bestgehaßten Trieb mit einer umgekehrten Empfindung und Werthung versehen. Wenn der Leidende, Unterdrückte den Glauben verlöre, ein Recht zu seiner Verachtung des Willens zur Macht zu haben, so träte er in das Stadium der hoffnungslosen Desperation. Dies wäre der Fall, wenn dieser Zug dem Leben essentiell wäre, wenn sich ergäbe, daß selbst in jenem “Willen zur Moral” nur dieser “Wille zur Macht” verkappt sei, daß auch jenes Hassen und Verachten noch ein Machtwille ist. Der Unterdrückte sähe ein, daß er mit dem Unterdrücker auf gleichem Boden steht und daß er kein Vorrecht, keinen höheren Rang vor jenem habe.
10.
Vielmehr umgekehrt! Es giebt nichts am Leben, was Werth hat, außer dem Grade der Macht—gesetzt eben, daß Leben selbst der Wille zur Macht ist. Die Moral behütete die Schlechtweggekommenen vor Nihilismus, indem sie Jedem einen unendlichen Werth, einen metaphysischen Werth beimaß und in eine Ordnung einreihte, die mit der der weltlichen Macht und Rangordnung nicht stimmte: sie lehrte Ergebung, Demuth usw. Gesetzt, daß der Glaube an diese Moral zu Grunde geht, so würden die Schlechtweggekommenen ihren Trost nicht mehr haben—und zu Grunde gehen.
11.
Das zu-Grunde-Gehen präsentirt sich als ein—Sich-zu-Grunde-richten, als ein instinktives Auslesen dessen, was zerstören muß. Symptome dieser Selbstzerstörung der Schlechtweggekommenen: die Selbstvivisektion, die Vergiftung, Berauschung, Romantik, vor allem die instinktive Nöthigung zu Handlungen, mit denen man die Mächtigen zu Todfeinden macht (—gleichsam sich seine Henker selbst züchtend) der Wille zur Zerstörung als Wille eines noch tieferen Instinkts, des Instinkts der Selbstzerstörung, des Willens ins Nichts.
12.
Nihilismus, als Symptom davon, daß die Schlechtweggekommenen keinen Trost mehr haben: daß sie zerstören, um zerstört zu werden, daß sie, von der Moral abgelöst, keinen Grund mehr haben, “sich zu ergeben”—daß sie sich auf den Boden des entgegengesetzten Princips stellen und auch ihrerseits Macht wollen, indem sie die Mächtigen zwingen, ihre Henker zu sein. Dies ist die europäische Form des Buddhismus, das Nein-thun, nachdem alles Dasein seinen “Sinn” verloren hat.
13.
Die “Noth” ist nicht etwa größer geworden; im Gegentheil! “Gott, Moral, Ergebung” waren Heilmittel, auf furchtbaren tiefen Stufen des Elends: der aktive Nihilismus tritt bei relativ viel günstiger gestalteten Verhältnissen auf. Schon, daß die Moral als überwunden empfunden wird, setzt einen ziemlichen Grad geistiger Cultur voraus; diese wieder ein relatives Wohlleben. Eine gewisse geistige Ermüdung, durch den langen Kampf philosophischer Meinungen bis zur hoffnungslosen Scepsis gegen Philosophen gebracht, kennzeichnet ebenfalls den keineswegs niederen Stand jener Nihilisten. Man denke an die Lage, in der Buddha auftrat. Die Lehre der ewigen Wiederkunft würde gelehrte Voraussetzungen haben (wie die Lehrer Buddha solche hatte z.B. Begriff der Causalität usw.).
14.
Was heißt jetzt “schlechtweggekommen”? Vor allem physiologisch? nicht mehr politisch. Die ungesundeste Art Mensch in Europa (in allen Ständen) ist der Boden dieses Nihilismus: sie wird den Glauben an die ewige Wiederkunft als einen Fluch empfinden, von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurückscheut: nicht passiv auslöschen, sondern Alles auslöschen machen, was in diesem Grade sinn- und ziellos ist: obwohl es nur ein Krampf, ein blindes Wüthen ist bei der Einsicht, daß Alles seit Ewigkeiten da war—auch dieser Moment von Nihilismus und Zerstörungslust.— Der Werth einer solchen Crisis ist, daß sie reinigt, daß sie die verwandten Elemente zusammendrängt und sich an einander verderben macht, daß sie den Menschen entgegengesetzter Denkweisen gemeinsame Aufgaben zuweist—auch unter ihnen die schwächeren, unsichereren ans Licht bringend und so zu einer Rangordnung der Kräfte, im Gesichtspunkte der Gesundheit, den Anstoß giebt: Befehlende als Befehlende erkennend, Gehorchende als Gehorchende. Natürlich abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen.
15.
Welche werden sich als die Stärksten dabei erweisen? Die Mäßigsten, die, welche keine extremen Glaubenssätze nöthig haben, die, welche einen guten Theil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehen, sondern lieben, die welche vom Menschen mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Werthes denken können, ohne dadurch klein und schwach zu werden: die Reichsten an Gesundheit, die den meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so fürchten—Menschen die ihrer Macht sicher sind, und die die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze repräsentiren.
16.
Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft? —