Frühjahr-Herbst 1873 27 [1-81]
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Der Stil des Strauß beweist, daß er während eines langen Lebens viel schlechte Bücher gelesen—ich meine vor allem die Schriften seiner Gegner.
Er hat am Christenthum das Beste vergessen, die großen Einsiedler und Heiligen, kurz das Genie und urtheilt wie der Dorfpastor über die Kunst oder wie Kant über die Musik (der sie nur als Militärmusik schätzt).
Wenn die Franzosen mehr Deutsch verstehen werden, wird es ein großes Gelächter über den Geschmack der deutschen Landsleute geben: was für Gelehrte, und Dichter und Romanschreiber, wie stolz und wie geschmacklos! Es war frech von Strauß, das Leben Jesu dem deutschen Volke zu bieten [Vgl. David Friedrich Strauss, Das Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet. 2. Aufl. Leipzig: Brockhaus, 1864.] als ein Gegenstück zu dem viel größeren Renan [Vgl. Ernest Renan, Histoire des origines du Christianisme. Livre premier. Vie de Jésus. Paris: Michel Lévy fréres, 1863; 1867.]: und gar Voltaire hätte er nicht berühren dürfen. [Vgl. David Friedrich Strauss, Voltaire. Sechs Vorträge. Leipzig: Hirzel, 1872.]
Strauß hat gewähnt das Christenthum zu zerstören, in dem er Mythen nachweisen wollte. Aber das Wesen der Religion besteht gerade darin, mythenbildende Kraft und Freiheit zu besitzen. Widersprüche mit der Vernunft und der heutigen Wissenschaft sind sein Trumpf. Er ahnt nichts von der fundamentalen Antinomie des Idealismus und von dem höchst relativen Sinn aller Wissenschaft und Vernunft. Oder: gerade die Vernunft sollte ihm sagen, wie wenig durch die Vernunft über das Ansich der Dinge auszumachen ist.