Sommer-Herbst 1873 29 [101-232]
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Antiquarisch.— Pietät gegen das, woraus oder worin wir sind. Heiligende Macht der Persönlichkeit—Urväterhausrath und Gemeindeinstitutionen bekommen Würde und erregen eifriges Nachforschen. Das Kleine, das Beschränkte wird geadelt—frauenhaft—das Idyllische gefunden. Überall Zeugnisse von braver treuer fleissiger Sinnesart.
Schäden: alles Vergangne gleich wichtig genommen, keine Beziehung aufs Leben als bewahrend, nicht schaffend, das Lebendige zu Gunsten des Verehrten (Hieratischen) unterschätzt. Mangel an Urtheil, alles Vergangene liegt wie eine bunte Jagdbeute da. Hindert den kräftigen Entschluss, lähmt den Handelnden, der immer die Pietät verletzt. Der ehrwürdige “Alte”; de mortuis nil nisi bene. Die ältesten Sitten, Religionen usw. rechtfertigen sich durch Alter und verwirren alle Werthabschätzungen: weil sie die viele Sympathie, die die Griechen ihnen geschenkt haben, zusammenrechnen. Das, was die meiste Sympathie erzeugt hat, ist am ehrwürdigsten: man ehrt die Masse Liebe. Man vergisst nach den Motiven dieser Sympathie zu fragen: Faulheit Egoismus Gedankenbequemlichkeit usw.
Wie leidet dabei die Vergangenheit? Es giebt keine Proportion der Dinge zu einander, der Eine hält dies, der Andere das wichtig. Die V[ergangenheit] zerfällt: ein Partikel ist jemandem sympathisch, das nächste kalt und gleichgültig. Dazu wird das Unbedeutende perpetuirt.
Allmählich entsteht eine gelehrtenhafte Gewohnheit, die Pietät stirbt ab, die Sammelwuth tritt ein, völlige Verwirrung der menschlichen Aufgaben: bedeutende Naturen verlieren sich in bibliographische Fragen usw. In summa Ruin der Lebendigen, die fortwährend durch ehrwürdigen Moderduft geplagt werden.