Sommer-Herbst 1873 29 [101-232]
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Es ist gar nichts Unsinniges zu denken, dass das Gedächtniss für die Vergangenheit auch bei uns geringer sei und dass der historische Sinn etwa ebenso schliefe, wie er in der höchsten Akme der Griechen schlief. Bald hinter der Gegenwart begänne das Dunkel: in ihm wandeln schattenhaft unsicher grosse Gestalten ins Ungeheure sich ausdehnend, wirkend auf uns, aber fast wie Heroen, nicht wie gemeine helle Tageswirklichkeit. Alle Tradition wäre jene fast unbewusste der ererbten Charactere: die lebenden Menschen wären, in ihren Handlungen, Beweise, was im Grunde durch sie tradirt werde; mit Fleisch und Blut liefe die Geschichte herum, nicht als vergilbtes Document und als papiernes Gedächtniss. Die Sitten der Eltern und der Grosseltern gelten bei den Kindern als die Vergangenheit: was ferne dahinter lag, wirkt kaum noch als übrig gebliebene Architectur, als Tempel, als Aberglaube auf die Gegenwärtigen ein. Ähnlich lebt jetzt noch der Bauer, ähnlich fast jedes grosse Volk der Vergangenheit. Der Hauptgewinn für beide ist und war, dass die gegenwärtige Generation nicht so peinlich vergleicht und sich misst, so dass sie über sich selbst in Unbewusstheit des Urtheils bleiben kann. Sie wird zutrauensvoller zu ihrer Kraft sein, weil ihre Kraft nur durch das wirkliche, nicht durch das eingebildete und anerzogene Bedürfniss in Anspruch genommen wird und Kraft und Bedürfniss sich meistens entsprechen. Sie wird vor dem Überdrusse mehr bewahrt bleiben als ein Volk, das historischer und gebildeter ist, als seine Productionskraft auszuhalten vermag. Nicht so oft irregeführt nach dem unerreichbaren Ziele, zum Ekel gestimmt über das Erreichte, kommt der Mensch zu einer Ruhe, die der Gegensatz der modernen durch und durch historischen Welt und ihrer Hast ist. Sollte man es nicht zu büssen haben, wenn man in kostbaren Bildergallerien aller Zeiten lebt und der Blick immer vergleichend zu dem Betrachter zurückkehrt, mit Frage, was er eigentlich in diesen Räumen zu suchen habe? Und so entfährt dem Verwegensten wohl einmal der Fluch: “weg mit allem Vergangenen, ins Feuer mit den Archiven, Bibliotheken, Kunstkammern! Lasst doch die Gegenwart selbst produciren, was ihr noththut, denn nur dessen, was sie selbst kann, ist sie werth. Quält sie nicht durch Mumisirung des einmal, in ferner Zeit Gültigen und Nothwendigen und schafft das Todtengerippe weg, damit die Lebenden ihres Tages und Thuns froh werden können.” Ja, wenn Glück, Freiheit von Überdruss, Behagen unsre Losung sein dürfte: dann wäre es erlaubt, das Thier zu preisen, das immer auf der schmalen Linie der Gegenwart lebt und ohne Verdrossenheit und Überdruss frisst, verdaut, wieder frisst, ruht und springt. “Historisch fühlen” heisst wissen, dass man jedenfalls zum Leiden geboren ist und dass alles unser Arbeiten im schönsten Fall Vergessenheit des Leidens erringt. Immer lebten früher die Halbgötter, immer ist das gegenwärtige Geschlecht das entartete. Was seine Auszeichnung ist, weiss es selten; denn das Vergangne umgiebt uns wie eine geschwärzte verdunkelnde Zimmerwand. Erst der Nachkomme vermag zu würdigen, worin auch wir Halbgötter waren. Nicht dass es somit ewig abwärts gienge und alles Grosse in immer kleineren Proportionen sich wiederholte: aber immer ist jede Zeit zugleich eine absterbende und seufzt unter dem herbstlichen Fall der Blätter. Man sehe nur das einzelne Menschenleben an: was der Jüngling verliert, wenn er die Kindheit verlässt, ist so unersetzlich, dass er wünschen müsste, nach diesem Verlust das Leben als gleichgültig hinzugeben. Und doch verliert er als Mann noch einmal Unschätzbares, um endlich als Greis auch noch das letzte Gut zu verlieren, so dass er nun das Leben kennt und es zu verlieren bereit ist. Welches verlorne Bemühen, wollten wir als Jünglinge nach dem ringen, was der Kindheit Glück und Kraft ausmachte. Der Verlust ist zu erleiden, die Erinnerung häuft immer mehr Verluste zusammen, und am Schluss, wenn wir wissen alles verloren zu haben, nimmt uns tröstlich der Tod dieses Wissen, unser letztes Erbgut.