Sommer-Herbst 1873 29 [101-232]
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Man findet, dass “der Deutsche isolirt lebe und eine Ehre darin suche, seine Individualität originell auszubilden.” [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Ueber die Entstehung des Festspiels zu Iffland's Andenken. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 35. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1858:421.] Ich kann [das] jetzt nicht mehr zugeben: ja, eine gewisse Freiheit der Sinnesart ist erlaubt: die Handlungsart ist uniformirt und starr imperativisch. Es bleibt überall bei dem Innern ohne ein Äusseres, wie der Protestantismus das Christenthum gereinigt zu haben glaubt, indem er es durch Verinnerlichung verflüchtigte und aus der Welt schaffte. An Stelle der Sitte d. h. der natürlich zutreffenden und angemessenen Tracht steht die Mode, die willkürlich übergehängte, die Individuen auszeichnende und sofort wieder uniformirende Tracht. Man erlaubt jetzt die Mode, aber nicht mehr die abweichende Denk- und Handlungsart. Umgekehrt hätte der antike Mensch die Mode ausgelacht, aber die individuelle Manier zu leben, bis auf die Kleidung, gutgeheissen. Die Individuen waren stärker und freier und unabhängiger in allem, was sichtbar werden kann in Handlung und Leben. Unsre Individuen sind schwach und furchtsam: ein widerhaariger Geist des Individuellen hat sich in’s Innere zurückgezogen und zeigt seine Mucken hier und da; er widerstrebt verdriesslich und versteckt. Die Pressfreiheit hat diesen muckenden Individuen Luft gemacht: sie können jetzt ohne Gefahr sogar ihr elendes Separatvotumchen schriftlich geben: für das Leben bleibt es beim Alten. Die Renaissance zeigt freilich einen andern Anlauf, nämlich in’s Heidnisch-stark-Persönliche zurück. Aber auch das Mittelalter war freier und stärker. Die “Neuzeit” wirkt durch Massen gleichartiger Natur: ob sie “gebildet” sind, ist gleichgültig.