Sommer-Herbst 1873 29 [101-232]
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Nicht nur den nennen wir unvernünftig, welcher einen unvernünftigen Zweck verfolgt, sondern auch den, der um einen vernünftigen Zweck zu erreichen unzweckmässige und unverhältnissmässige Mittel anwendet: als[o] sowohl den, der das Meer ausschöpfen will, als den, welcher nach Sperlingen schiesst, aber mit Kartätschen. Von dieser zweiten Art der Unvernunft ist die Natur voll. Auch in ihrem höchsten Bereiche, das wir kennen, innerhalb der Menschen, zeigt sie sich nicht klüger, was die Mittel betrifft, so ausserordentlich ihre Zwecke und Absichten sind. Die Art, wie sie die seltenen Begabungen zum Wohl der Menschen verwendet, ist eben so bewunderungswürdig wegen ihrer Unvernunft als jener Gedanke selbst, das Seltene zum Wohle des Gewöhnlichen zu benutzen, erstaunlich ist: denn das Wohl des Gewöhnlichen liegt eben darin, dass es zum Seltenen erhoben, gesteigert, zum Ungewöhnlichen und Neuen umgeprägt werde. Ich frage nach der Teleologie des Philosophen, eines der seltensten Gebilde, die in der Werkstätte der Natur entstehen: wozu ist er da? Für das Wohl eines Volks und einer Zeit, vielleicht auch aller Völker und aller Zeiten. Und wie wird er für jenen Zweck verwendet? Wie das gleichgültigste Spielzeug, das man liegen lässt oder aufhebt, herumwirft oder zertritt, als ob es zu Tausenden auf den Strassen zu finden wäre. Ist es nicht nöthig, dass die Menschen etwas noch hoffen und der Unvernunft der Natur entgegenarbeiten? Ja, es wäre nöthig, wenn es nur möglich wäre! weil die Natur gerade in den Menschen und durch die Menschen wirkt und ein Volk als Ganzes eben jene Doppelheit der Natur zeigt, die wundersamste Vernunft der Zwecke und die nicht minder wunderbare Unvernunft der Mittel. Der Künstler macht sein Werk für die anderen Menschen, es ist kein Zweifel. Trotzdem weiss er es, dass niemals jemand sein Werk so verstehen und lieben wird, wie er selbst. Der hohe Grad der Erkenntniss und der Liebe ist aber nöthig, damit ein niedriger Grad entstehe: jener niedrigere Grad ist der Zweck, den die Natur mit dem Kunstwerk verfolgt, sie verschwendet ihre Mittel und Kräfte, und die Ausgabe ist viel grösser, als der Ertrag ist. Und doch ist dies das natürliche Verhältniss, überall. Wenig Kosten, aber hundertfältiger Ertrag wäre vernünftiger. Geringere Mühe, geringere Lust und Erkenntniss, im Künstler selbst, aber ungemeines Anwachsen von Lust und Erkenntniss im Kunstempfänger—das wäre vortheilhafter eingerichtet. Könnten wir die Rollen tauschen: der Künstler müsste der schwächere Mensch und die Aufnehmenden Zuhörer Zuschauer die stärkeren Menschen sein. Die Kraft der Kunstwerke müsste erst mit der Resonanz im Volke wachsen: wie die Schnelligkeit wächst mit dem Quadrate der Entfernungen. Ist es sinnlos zu wünschen, dass die Kunstwirkung am Anfange das schwächere, zuletzt das stärkere Ende habe? Oder dass mindestens so viel genommen wird als gegeben ist, dass Ursache und Wirkung gleich stark sind?
Deshalb sieht es oft so aus, als ob ein Künstler und zumal ein Philosoph zufällig in ihrer Zeit seien, versprengte Wanderer oder zurückgebliebene Einsiedler.
Wo wir aber ein Verhältniss zwischen einem Philosophen und einem Volk entdecken, so spüren wir folgende Zwecke der Natur, folgende Bestimmung des Philosophen.