Sommer-Herbst 1873 29 [101-232]
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Von der Bestimmung des Philosophen.
Es giebt etwas Unzweckmässiges, das der Natur vorzuwerfen ist: man bemerkt es bei der Frage: wozu ist ein Kunstwerk da? Für wen? Für den Künstler? Für die andern Menschen? Aber der Künstler hat es nicht nöthig, ein Bild das er sieht sichtbar zu machen und Andern zu zeigen. Jedenfalls ist das Glück des Künstlers in seinem Werke, ebenso wie sein Verständniss desselben grösser als das Glück und das Verständniss bei allen Übrigen. Diese Disproportion finde ich unzweckmässig. Die Ursache sollte der Wirkung entsprechen. Dies ist nie bei Kunstwerken der Fall. Es ist dumm eine grosse Lawine zu wälzen, um ein wenig Schnee wegzuschieben, einen Menschen zu erschlagen, um die Fliege auf seiner Nase zu tödten. So verfährt die Natur. Der Künstler ist ein Beweis gegen die Teleologie.
Der Philosoph erst recht. Für wen philosophirt er? Für sich? für Andere? Aber das Erstere wäre sinnlose Verschwendung der Natur, das Zweite wieder unzweckmässig. Der Nutzen des Philosophen trifft immer nur Wenige und nicht das Volk: und diese Wenigen trifft er nicht so stark wie den Urheber selbst.
Für wen baut ein Baumeister? Sollte der mannichfache ungleiche Reflex, diese Repercussion in vielen Seelen die Absicht der Natur sein? Ich glaube er baut für den nächsten grossen Baumeister. Jedes Kunstwerk sucht weiter zu zeugen und sucht nach empfänglichen und zeugenden Seelen umher. So der Philosoph.
Die Natur verfährt unverständlich und nicht geschickt. Der Künstler schiesst wie der Philosoph seinen Pfeil in das Gewimmel hinein. Er wird wohl irgendwo hängen bleiben. Sie zielen nicht. Die Natur zielt nicht und schiesst unzählig oft daneben. Künstler und Philosophen gehen zu Grunde, weil ihre Pfeile nicht treffen.
Im Bereiche der Kultur geht die Natur eben so vergeuderisch um wie bei dem Pflanzen und Säen. Ihre Zwecke erfüllt sie auf eine schwerfällige und allgemeine Manier. Sie opfert viel zu viel Kraft auf, zu Zwecken, die nicht im Verhältniss sind. Der Künstler und seine Kenner und Liebhaber verhalten sich zu einander wie ein grosses Geschütz zu einer Anzahl Spatzen.
Die Natur ist gemeinnützig, wendet aber nicht immer die besten und geschicktesten Mittel an. Dass sie mit dem Künstler, dem Philosophen den Andern helfen wollte, ist kein Zweifel: aber wie unverhältnissmässig gering und wie zufällig ist die Wirkung, gerechnet gegen die Ursachen (den Künstler, das Kunstwerk)! Besonders bei dem Philosophen ist die Verlegenheit gross: der Weg von ihm zum Object, auf das gewirkt werden soll, ganz zufällig. Zahllose Male misslingt es. Die Natur verschwendet, doch nicht aus Üppigkeit, sondern aus Unerfahrenheit: es ist anzunehmen, dass sie, wenn sie ein Mensch wäre, aus dem Ärger über sich gar nicht heraus käme.