Herbst 1885 - Herbst 1886 2 [1-100]
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Dies ist mein Mißtrauen, das immer wieder kommt, meine Sorge, die sich mir nie schlafen legt, meine Frage, welche Niemand hört oder hören mag, meine Sphinx, neben der nicht nur Ein Abgrund ist:—ich glaube, wir täuschen uns heute über die Dinge, welche wir Europäer am höchsten lieben, und ein grausamer (oder nicht einmal grausamer, nur gleichgültiger und kindsköpfischer) Kobold spielt mit unserem Herzen und seiner Begeisterung, wie er vielleicht mit Allem schon gespielt hat, was sonst lebte und liebte—: ich glaube, daß Alles, was wir in Europa heute als “Humanität,” “Moralität,” “Menschlichkeit,” “Mitgefühl,” “Gerechtigkeit” zu verehren gewohnt sind, zwar als Schwächung und Milderung gewisser gefährlicher und mächtiger Grundtriebe einen Vordergrunds-Werth haben mag, aber auf die Länge hin trotzdem nichts Anderes ist als die Verkleinerung des ganzen Typus “Mensch”—seine endgültige Vermittelmäßigung, wenn man mir in einer verzweifelten Angelegenheit ein verzweifeltes Wort nachsehen will; ich glaube, daß die commedia umana für einen epikurischen Zuschauer-Gott darin bestehen müßte, daß die Menschen vermöge ihrer wachsenden Moralität, in aller Unschuld und Eitelkeit sich vom Thiere zum Range der “Götter” und zu überirdischen Bestimmungen zu erheben wähnen, aber in Wahrheit sinken, das heißt durch Ausbildung aller der Tugenden, vermöge deren eine Heerde gedeiht, und durch Zurückdrängung jener andren und entgegengesetzten, welche einer neuen höheren stärkeren herrschaftlichen Art den Ursprung geben, eben nur das Heerdenthier im Menschen entwickeln und vielleicht das Thier “Mensch” damit feststellen—denn bisher war der Mensch das “nicht festgestellte Thier”—; ich glaube, daß die große vorwärts treibende und unaufhaltsame demokratische Bewegung Europa’s—das, was sich “Fortschritt” nennt—und ebenso schon deren Vorbereitung und moralisches Vorzeichen, das Christenthum—im Grunde nur die ungeheure instinktive Gesammt-Verschwörung der Heerde bedeutet gegen alles, was Hirt, Raubthier, Einsiedler und Cäsar ist, zu Gunsten der Erhaltung und Heraufbringung aller Schwachen, Gedrückten, Schlecht-Weggekommenen, Mittelmäßigen, Halb-Mißrathenen, als ein in die Länge gezogener, erst heimlicher, dann immer selbstbewußterer Sklaven-Aufstand gegen jede Art von Herr, zuletzt noch gegen den Begriff “Herr,” als ein Krieg auf Leben und Tod wider jede Moral, welche aus dem Schooße und Bewußtsein einer höheren stärkeren, wie gesagt herrschaftlichen Art Mensch entspringt,—einer solchen, die der Sklaverei in irgend welcher Form und unter irgend welchem Namen als ihrer Grundlage und Bedingung bedarf; ich glaube endlich, daß bisher jede Erhöhung des Typus Mensch das Werk einer aristokratischen Gesellschaft war, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubte und die Sklaverei nöthig hatte: ja daß ohne das Pathos der Distanz, wie es aus dem eingefleischten Unterschiede der Stände, aus dem beständigen Anblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf unterthänige und Werkzeuge und ihrer ebenso beständigen Übung im Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, auch jenes andre geheimnißvollere Pathos gar nicht entstehen kann, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz die “Selbst-Überwindung des Menschen,” um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen. Eine Frage kommt mir immer wieder, eine versucherische und schlimme Frage vielleicht: sei sie denen in’s Ohr gesagt, welche ein Recht auf solche fragwürdige Fragen haben, den stärksten Seelen von heute, welche sich selbst auch am besten in der Gewalt haben: wäre es nicht an der Zeit, je mehr der Typus “Heerdenthier” jetzt in Europa entwickelt wird, mit einer grundsätzlichen künstlichen und bewußten Züchtung des entgegengesetzten Typus und seiner Tugenden den Versuch zu machen? Und wäre es für die demokratische Bewegung nicht selber erst eine Art Ziel, Erlösung und Rechtfertigung, wenn Jemand käme, der sich ihrer bediente—, dadurch daß endlich sich zu ihrer neuen und sublimen Ausgestaltung der Sklaverei, als welche sich einmal die Vollendung der europäischen Demokratie darstellen wird, jene höhere Art herrschaftlicher und cäsarischer Geister hinzufände, welche diese neue Sklaverei nun auch—nöthig hat? Zu neuen, bisher unmöglichen, zu ihren Fernsichten? Zu ihren Aufgaben?