Herbst 1885 - Herbst 1886 2 [1-100]
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Das Urtheilen ist unser ältester Glaube, unser gewohntestes für-Wahr- oder für-Unwahrhalten
Im Urtheile liegt unser ältester Glaube vor, in allem Urtheilen giebt es ein Fürwahrhalten oder für Unwahrhalten, ein Behaupten oder Leugnen, eine Gewißheit, daß etwas so und nicht anders ist, ein Glaube, hier wirklich “erkannt” zu haben—was wird in allem Urtheilen als wahr geglaubt?
Was sind Prädikate?— Wir haben Veränderungen an uns nicht als solche genommen, sondern als ein “an sich,” das uns fremd ist, das wir nur “wahrnehmen”: und wir haben sie nicht als ein Geschehen, sondern als ein Sein gesetzt, als “Eigenschaft”—und ein Wesen hinzuerfunden, an dem sie haften. d.h. wir haben die Wirkung als Wirkendes angesetzt und das Wirkende als Seiendes. Aber auch noch in dieser Formulirung ist der Begriff “Wirkung” willkürlich: denn von jenen Veränderungen, die an uns vorgehen und von denen wir bestimmt glauben, nicht selbst die Ursachen zu sein, schließen wir nur, daß sie Wirkungen sein müssen: nach dem Schluß: “zu jeder Veränderung gehört ein Urheber;”— Aber dieser Schluß ist schon Mythologie: er trennt das Wirkende und das Wirken. Wenn ich sage “der Blitz leuchtet,” so habe ich das Leuchten einmal als Thätigkeit und das andere Mal als Subjekt gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponirt, welches mit dem Geschehen nicht eins ist, vielmehr bleibt, ist, und nicht “wird.”— Das Geschehen als Wirken anzusetzen: und die Wirkung als Sein: dies ist der doppelte Irrthum, oder Interpretation, deren wir uns schuldig machen. Also z.B. “der Blitz leuchtet”—: “leuchten” ist ein Zustand an uns: aber wir nehmen ihn nicht als Wirkung auf uns, und sagen: “etwas Leuchtendes” als ein “An sich” und suchen dazu einen Urheber, den “Blitz.”