April-Juni 1885 34 [101-272]
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NB. Die entmännlichende und vielleicht entmannende Wirkung des vielen Betens gehört auch unter die Schädigungen des deutschen Wesens seit der Reformation. Es ist eine Sache schlechten Geschmacks unter allen Umständen, viel zu bitten, statt viel zu geben: die Mischung demüthiger Servilität mit einer hoffärtig-pöbelhaften Zudringlichkeit, mit der sich z. B. der heilige Augustin in seinen confessiones vor Gott wälzt, erinnert daran, daß der Mensch vielleicht nicht allein unter den Thieren das religiöse Gefühl hat- der Hund hat für den Menschen ein ähnliches “religiöses Gefühl.”— Der betende Verkehr mit G[ott] züchtet die erniedrigende Stimmung und Attitüde, welche auch in unfrommen Zeiten, durch Vererbung, noch ihr Recht behauptet: die Deutschen erstarben bekanntlich vor Fürsten oder vor Parteiführern oder vor der Phrase “als unterthänigster Knecht.” Es soll damit vorüber sein. [Vgl. Aurelius Augustinus, Confessiones. Nicht bekannt welche Ausgabe Nietzsche besaß. s. Nizza 31 März 1885: Brief an Franz Overbeck. “Ich las jetzt, zur Erholung, die Confessionen des h[eiligen] Augustin, mit großem Bedauern, daß Du nicht bei mir warst. Oh dieser alte Rhetor! Wie falsch und augenverdreherisch! Wie habe ich gelacht! (zb. über den ‘Diebstahl’ seiner Jugend, im Grunde eine Studenten-Geschichte.) Welche psychologische Falschheit! (zb. als er vom Tode seines besten Freundes redet, mit dem er Eine Seele gewesen sei, ‘er habe sich entschlossen, weiter zu leben, damit auf diese Weise sein Freund nicht ganz sterbe.’ So etwas ist ekelhaft verlogen.) Philosophischer Werth gleich Null. Verpöbelter Platonismus, das will sagen, eine Denkweise, welche für die höchste seelische Aristokratie erfunden wurde, zurecht gemacht für Sklaven-Naturen. Übrigens sieht man, bei diesem Buche, dem Christenthum in den Bauch: ich stehe dabei mit der Neugierde eines radikalen Arztes und Physiologen. —”]