April-Juni 1885 34 [101-272]
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Meine Freunde, womit bin ich doch seit vielen Jahren beschäftigt? Ich habe mich bemüht, den Pessimismus in die Tiefe zu denken, u[nd] aus der halb christlichen, halb deutschen Enge und Einfalt zu erlösen, in der er mir, in der Philosophie Schopenhauers, zuerst entgegentrat: so daß der Mensch dieser Denkweise auch dem höchsten Ausdruck des Pessimismus gewachsen ist. Ich habe insgleichen ein umgekehrtes Ideal gesucht—eine Denkweise, welche die übermüthigste lebendigste und weltbejahendste aller möglichen Denkweisen ist: ich fand sie im Zuendedenken der mechanistischen Weltbetrachtung; es gehört wahrlich der allerbeste humor von der Welt dazu, um eine solche Welt der ewigen Wiederkunft, wie ich sie durch meinen Sohn Z[arathustra] gelehrt habe—also uns selber in ewigem da capo mit begriffen—auszuhalten. Schließlich ergab sich für mich, daß die weltverneinendste aller möglichen Denkensarten die ist, welche das Werden, Entstehen und Vergehen an sich schon schlecht heißt und welche nur das Unbedingte, Eine, Gewisse, Seiende bejaht: ich fand, daß Gott der vernichtendste und lebensfeindlichste aller Gedanken ist, und daß nur durch die ungeheuerliche Unklarheit der lieben Frommen und Metaphysiker aller Zeiten die Erkenntniß dieser “Wahrheit” so lange hat auf sich warten lassen.
Man vergebe mir, daß ich selber ganz und gar nicht Willens bin, auf eine dieser beiden Denkweisen zu verzichten—ich müßte denn auf meine Aufgabe verzichten, welche entgegengesetzte Mittel braucht. Es ist, zum Zugrunderichten oder zum Verzögern und Vertiefen von Menschen und Völkern, zeitweilig (unter Umständen für ein Paar Jahrtausende), eine pessimistische Denkweise vom höchsten Werthe; und wer im großen Sinne die Ansprüche des Schaffenden erhebt, wird auch die Ansprüche des Vernichters erheben und vernichtende Denkweisen unter Umständen lehren müssen. In diesem Sinne heiße ich das bestehende Christenthum und den Buddhismus, die beiden umfänglichsten Formen jetziger Welt-Verneinung, willkommen; und, um entartenden und absterbenden Rassen z. B. den Indern, und den Europäern von heute den Todesstich zu geben, würde ich selber die Erfindung einer noch strengeren, ächt nihilistischen Religion oder Philosophie in Schutz nehmen.
Nach dem, was ich vorher sagte, lasse ich wohl Niemanden darüber in Zweifel, welche Bedeutung ich in einer solchen Religion dem Gedanken “Gott” beilegen würde.— Die besten Nihilisten unter den Philosophen waren bisher die Eleaten. Ihr Gott ist die beste und gründlichste Darlegung vom buddhistischen Nirvana; Sein und Nichts ist da identisch.