April-Juni 1885 34 [101-272]
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NB. Ich ehre M[ichel] Angelo höher als Raffael, weil er, durch alle christlichen Schleier und Befangenheiten seiner Zeit hindurch, die Ideale einer vornehmeren Cultur gesehn hat, als es die christlich-raffaelische ist: während Raffael treu und bescheiden nur die ihm gegebenen Werthschätzungen verherrlichte und keine weitersuchenden, sehnsüchtigen Instinkte in sich trug. M[ichel] Angelo aber sah und empfand das Problem des Gesetzgebers von neuen Werthen: ebenso das Problem des Siegreich-Vollendeten, der erst nöthig hatte, auch “den Helden in sich” zu überwinden; den zu Höchstem gehobenen Menschen, der auch über sein Mitleiden erhaben ward und erbarmungslos das ihm Unzugehörige zerschmettert und vernichtet,—glänzend und in ungetrübter Göttlichkeit. M[ichel] A[ngelo] war, wie billig, nur in Augenblicken so hoch und so außerhalb seiner Zeit und des christlichen Europas: zumeist verhielt er sich condescendent gegen das Ewig-Weibliche am Christenthum; ja es scheint, daß er noch zuletzt gerade vor diesem zerbrach und das Ideal seiner höchsten Stunden aufgab. Es war nämlich ein Ideal, dem nur der Mensch der stärksten und höchsten Lebens-Fülle gewachsen sein kann, nicht aber ein altgewordener Mann! Im Grunde hätte er ja das Christenthum von seinem Ideale aus vernichten müssen! Aber dazu war er nicht Denker und Philosoph genug.— L[eonardo] da Vinci hat vielleicht allein von jenen Künstlern einen wirklich überchristlichen Blick gehabt. Er kennt “das Morgenland,” das innewendige so gut als das äußere. Es ist etwas Über-Europäisches und Verschwiegenes an ihm, wie es Jeden auszeichnet, der einen zu großen Umkreis von guten und schlimmen Dingen gesehn hat.