April-Juni 1885 34 [101-272]
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Die Moralen und Religionen sind das Haupt-Mittel, mit dem man aus dem Menschen gestalten kann, was Einem beliebt: vorausgesetzt, daß [man] einen Überschuß von schaffenden Kräften hat und seinen schaffenden Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann, in Gestalt von Gesetzgebungen und Sitten. Indem ich über die Mittel nachsann, den Menschen stärker und tiefer zu machen als er es bisher war, erwog ich vor Allem, mit Hülfe welcher Moral dergleichen bisher bewerkstelligt worden ist. Das Erste, was ich begriff, war, daß man dazu die in Europa übliche Moral nicht gebrauchen kann, von der freilich die Philosophen und Moralisten Europa’s meinen, es sei die Moral selber und allein—ein solches Philosophen-Unisono ist in der That der beste Beweis dafür, daß jene Moral wirklich herrscht.— Denn diese Moral ist der eigentliche Heerden-Instinkt, welcher Behagen, Ungefährlichkeit, Leichtigkeit des Lebens ersehnt und als letzten hintersten Wunsch sogar den hat, aller Führer u[nd] Leithammel entrathen zu können. Ihre beiden am besten gepredigten Lehren heißen: “Gleichheit der Rechte” und “Mitgefühl für alles Leidende”—und das Leiden selbst wird von allen Heerden-Thieren als etwas genommen, das man abschaffen muß. Wer aber darüber nachdenkt, wo und wie die Pflanze Mensch [nach Vittorio Alfieris Satz: “La pianta uomo nasce più robusta qui che altrove,” zitiert bei Stendhal: Rome, Naples et Florence. Paris: Lévy, 1854:383.] bisher am kräftigsten und schönsten emporwuchs, wird im Gegensatz zur europäischen Heerden-Moral und Geschichts-Fälscherei so viel aus der Geschichte entnehmen, daß dazu die Gefährlichkeit seiner Lage gesteigert, sein Erfindungs- und Verstellungsgeist durch langen Druck und Zwang herausgefordert werden muß, und daß folglich Härte, Grausamkeit, Verschwiegenheit, Ungemüthlichkeit, Ungleichheit der Rechte, Krieg, Erschütterung aller Art, kurz der Gegensatz aller Heerden-Ideale noth thut. Daß eine Moral mit solchen umgekehrten Absichten nur in Anknüpfung an das bestehende Sittengesetz und unter dessen Worten und Prunkmantel gelehrt werden könne und angepflanzt werden könne, daß also viele Übergangs- und Täuschungsformen zu erfinden sind, und daß, weil das Leben Eines Menschen viel zu kurz zur Durchführung eines so langwierigen Willens ist, Menschen angezüchtet werden müssen, in denen einem solchen Willen Dauer durch viele Generationen verbürgt wird: dies begreift sich so gut als das lange nicht leicht aussprechbare Und-so-weiter dieser Gedanken. Eine Umkehrung der Werthe bei einer bestimmten starken Art von Menschen vorherbereitend und unter ihnen eine Menge im Zaum gehaltener und verläumdeter Instinkte zu entfesseln: darüber nachdenkend erwog ich, welche Art Mensch unwillkürlich und unbewußt schon der also gestellten Aufgabe bisher gearbeitet hat. Ich fand die Pessimisten, indem ihre Unzufriedenheit mit Allem sie auch zur Unzufriedenheit mit dem Gegenwärtigen mindestens logisch nöthigt: deshalb begünstigte ich Schopenhauer und die langsam über Europa aufdämmernde Kenntniß der indischen Philosophien. Auch ein Alpdruck ist ein Mittel, Menschen plötzlich aufzuwecken.— Insgleichen hatte ich ein Wohlgefallen an gewissen unersättlich-dualistischen Künstlern, welche wie Byron unbedingt an die Vorrechte höherer Menschen glauben und unter der Verführung der Kunst bei ausgesuchten Menschen die Heerden-Instinkte übertäuben und die entgegengesetzten wachrufen. Drittens ehrte ich die Philologen und Historiker, welche die Entdeckung des Alterthums fortsetzten, weil in der alten Welt eine andere Moral geherrscht hat als heute und in der That der Mensch damals unter dem Banne seiner Moral stärker böser und tiefer war: die Verführung, welche vom Alterthum her auf stärkere Seelen ausgeübt wird, ist wahrsch[einlich] die feinste und unmerklichste aller Verführungen.
Diese ganze Denkweise nannte ich bei mir selber die Philosophie des Dionysos: eine Betrachtung, welche im Schaffen Umgestalten des Menschen wie der Dinge den höchsten Genuß des Daseins erkennt und in der “Moral” nur ein Mittel, um dem herrschenden Willen eine solche Kraft und Geschmeidigkeit zu geben, dergestalt sich der Menschheit aufzudrücken. Ich betrachte Religionen und Erziehungs-systeme darauf hin, wie weit sie Kraft ansammeln und vererben; und nichts scheint mir wesentlicher zu studiren, als die Gesetze der Züchtung, um nicht die größte Menge von Kraft wieder zu verlieren, durch unzweckmäßige Verbindungen und Lebensweisen.