November 1887 - März 1888 11 [1-100]
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(330) Wenn die Weltbewegung einen Zielzustand hätte, so müßte er erreicht sein. Das einzige Grundfaktum ist aber, daß sie keinen Zielzustand hat: und jede Philosophie oder wissenschaftliche Hypothese (z.B. der Mechanismus), in der ein solcher nothwendig wird, ist durch die einzige Thatsache widerlegt ... Ich suche eine Weltconception, welche dieser Thatsache gerecht wird: das Werden soll erklärt werden, ohne zu solchen finalen Absichten Zuflucht zu nehmen: das Werden muß gerechtfertigt erscheinen in jedem Augenblick (oder unabwerthbar: was auf Eins hinausläuft); es darf absolut nicht das Gegenwärtige um eines Zukünftigen wegen oder das Vergangene um des Gegenwärtigen willen gerechtfertigt werden. Die “Nothwendigkeit” nicht in Gestalt einer übergreifenden, beherrschenden Gesammtgewalt, oder eines ersten Motors; noch weniger als nothwendig, um etwas Werthvolles zu bedingen. Dazu ist nöthig, ein Gesammtbewußtsein des Werdens, einen “Gott” zu leugnen, um das Geschehen nicht unter den Gesichtspunkt eines mitfühlenden, mitwissenden und doch nichts wollenden Wesens zu bringen: “Gott” ist nutzlos, wenn er nicht etwas will, und andrerseits ist eine Summirung von Unlust und Unlogik damit gesetzt, welche den Gesammtwerth des “Werdens” erniedrigen würde: glücklicherweise fehlt gerade eine solche summirende Macht (—ein leidender und überschauender Gott, ein “Gesammtsensorium” und “Allgeist”—wäre der größte Einwand gegen das Sein)
Strenger: man darf nichts Seiendes überhaupt zulassen,—weil dann das Werden seinen Werth verliert und geradezu als sinnlos und überflüssig erscheint.
Folglich ist zu fragen: wie die Illusion des Seienden hat entstehen können (müssen)
insgleichen: wie alle Werthurtheile, welche auf der Hypothese ruhen, daß es Seiendes gäbe, entwerthet sind.
damit aber erkennt man, daß diese Hypothese des Seienden die Quelle aller Welt-Verleumdung ist
“die bessere Welt, die wahre Welt, die “jenseitige” Welt, Ding an sich”
| 1) | das Werden hat keinen Zielzustand, mündet nicht in ein “Sein.” |
| 2) | das Werden ist kein Scheinzustand; vielleicht ist die seiende Welt ein Schein. |
| 3) | das Werden ist werthgleich in jedem Augenblick: die Summe seines Werthes bleibt sich gleich: anders ausgedrückt: es hat gar keinen Werth, denn es fehlt etwas, woran es zu messen wäre, und in Bezug worauf das Wort “Werth” Sinn hät[te]. |
der Gesammtwerth der Welt ist unabwerthbar, folglich gehört der philosophische Pessimismus unter die komischen Dinge