November 1887 - März 1888 11 [1-100]
11 [99]
| (351) | Kritik des Nihilism. — |
1.
Der Nihilism als psychologischer Zustand wird eintreten müssen erstens wenn wir einen “Sinn” in allem Geschehen gesucht haben, der nicht darin ist: so daß der Sucher endlich den Muth verliert. Nihilismus ist da das Bewußtwerden der langen Vergeudung von Kraft, die Qual des “Umsonst,” die Unsicherheit, der Mangel an Gelegenheit, sich irgendwie zu erholen, irgendworüber noch zu beruhigen—die Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange betrogen ... Jener Sinn könnte gewesen sein: die “Erfüllung” eines sittlichen höchsten Kanons in allem Geschehen, die sittliche Weltordnung; oder die Zunahme der Liebe und Harmonie im Verkehr der Wesen; oder die Annäherung an einen allgemeinen Glücks-Zustand; oder selbst das Losgehn auf einen allgemeinen Nichts-Zustand—ein Ziel ist immer noch ein Sinn. Das Gemeinsame aller dieser Vorstellungsarten ist, daß ein Etwas durch den Prozeß selbst erreicht werden soll:—und nun begreift man, daß mit dem Werden nichts erzielt, nichts erreicht wird ... Also die Enttäuschung über einen angeblichen Zweck des Werdens als Ursache des Nihilismus: sei es in Hinsicht auf einen ganz bestimmten Zweck, sei es, verallgemeinert, die Einsicht in das Unzureichende aller bisherigen Zweck-Hypothesen, die die ganze “Entwicklung” betreffen (—der Mensch nicht mehr Mitarbeiter, geschweige der Mittelpunkt des Werdens)
Der Nihilismus als psychologischer Zustand tritt zweitens ein, wenn man eine Ganzheit, eine Systematisirung, selbst eine Organisirung in allem Geschehn und unter allem Geschehn angesetzt hat: so daß in der Gesammtvorstellung einer höchsten Herrschafts- und Verwaltungsform die nach Bewunderung und Verehrung durstige Seele schwelgt (—ist es die Seele eines Logikers, so genügt schon die absolute Folgerichtigkeit und Realdialektik, um mit Allem zu versöhnen ...) Eine Art Einheit, irgend eine Form des “Monismus”: und in Folge dieses Glaubens der Mensch in tiefem Zusammenhangs- und Abhängigkeits-Gefühl von einem ihm unendlich überlegenen Ganzen, ein modus der Gottheit ... “Das Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des Einzelnen” ... aber siehe da, es giebt kein solches Allgemeines! Im Grunde hat der Mensch den Glauben an seinen Werth verloren, wenn durch ihn nicht ein unendlich werthvolles Ganzes wirkt: d.h. er hat ein solches Ganzes concipirt, um an seinen Werth glauben zu können.
Der Nihilismus als psychologischer Zustand hat noch eine dritte und letzte Form. Diese zwei Einsichten gegeben, daß mit dem Werden nichts erzielt werden soll und daß unter allem Werden keine große Einheit waltet, in der der Einzelne völlig untertauchen darf, wie in einem Element höchsten Werthes: so bleibt als Ausflucht übrig, diese ganze Welt des Werdens als Täuschung zu verurtheilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als wahre Welt. Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischen Bedürfnissen diese Welt gezimmert ist und wie er dazu ganz und gar kein Recht hat, so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an eine metaphysische Welt in sich schließt,—welche sich den Glauben an eine wahre Welt verbietet. Auf diesem Standpunkt giebt man die Realität des Werdens als einzige Realität zu, verbietet sich jede Art Schleichwege zu Hinterwelten und falschen Göttlichkeiten—aber erträgt diese Welt nicht, die man schon nicht leugnen will ...
— Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der Werthlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit dem Begriff “Zweck,” noch mit dem Begriff “Einheit,” noch mit dem Begriff “Wahrheit” der Gesammtcharakter des Daseins interpretirt werden darf. Es wird nichts damit erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit des Geschehens: der Charakter des Daseins ist nicht “wahr,” ist falsch ..., man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden ...
Kurz: die Kategorien “Zweck,” “Einheit,” “Sein,” mit denen wir der Welt einen Werth eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen—und nun sieht die Welt werthlos aus ...
2.
Gesetzt, wir haben erkannt, in wiefern mit diesen drei Kategorien die Welt nicht mehr ausgelegt werden darf und daß nach dieser Einsicht die Welt für uns werthlos zu werden anfängt: so müssen wir fragen, woher unser Glaube an diese 3 Kategorien stammt—versuchen wir, ob es nicht möglich ist, ihnen den Glauben zu kündigen. Haben wir diese 3 Kategorien entwerthet, so ist der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf das All kein Grund mehr, das All zu entwerthen.
*
* *
Resultat: der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus,—wir haben den Werth der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingirte Welt beziehen.
* *
*
Schluß-Resultat: alle Werthe, mit denen wir bis jetzt die Welt zuerst uns schätzbar zu machen gesucht haben und endlich ebendamit entwerthet haben, als sie sich als unanlegbar erwiesen—alle diese Werthe sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur fälschlich projicirt in das Wesen der Dinge. Es ist immer noch die hyperbolische Naivetät des Menschen, sich selbst als Sinn und Werthmaß der Dinge [anzusetzen] ...