November 1887 - März 1888 11 [1-100]
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[(339)] Das, was eine gute Handlung genannt wird, ist ein bloßes Mißverständniß; solche Handlungen sind gar nicht möglich.
“Egoismus” ist ebenso wie “Selbstlosigkeit” eine populäre Fiktion; insgleichen das Individuum, die Seele.
In der ungeheuren Vielheit des Geschehens innerhalb eines Organismus ist der uns bewußt werdende Theil ein bloßer Winkel: und das Bischen “Tugend,” “Selbstlosigkeit” und ähnliche Fiktionen werden auf eine vollkommen radikale Weise vom übrigen Gesammtgeschehen aus Lügen gestraft. Wir thun gut, unseren Organism in seiner vollkommenen Unmoralität zu studiren ...
Die animalischen Funktionen sind ja principiell millionenfach wichtiger als alle schönen Zustände und Bewußtseins-Höhen: letztere sind ein überschuß, soweit sie nicht Werkzeuge sein müssen für jene animalischen Funktionen.
Das ganze bewußte Leben, der Geist sammt der Seele, sammt dem Herzen, sammt der Güte, sammt der Tugend: in wessen Dienst arbeitet es denn? In dem möglichster Vervollkommnung der Mittel (Ernährungs- Steigerungsmittel) der animalischen Grundfunktionen: vor Allem der Lebenssteigerung.
Es liegt so unsäglich viel mehr an dem, was man “Leib” und “Fleisch” nannte: der Rest ist ein kleines Zubehör. Die Aufgabe, die ganze Kette des Lebens fortzuspinnen und so, daß der Faden immer mächtiger wird—das ist die Aufgabe. Aber nun sehe man, wie Herz, Seele, Tugend, Geist förmlich sich verschwören, diese principielle Aufgabe zu verkehren: wie als ob sie die Ziele wären ... Die Entartung des Lebens ist wesentlich bedingt durch die außerordentliche Irrthumsfähigkeit des Bewusstseins: es wird am wenigsten durch Instinkte im Zaum gehalten und vergreift sich deshalb am längsten und gründlichsten.
Nach den angenehmen oder unangenehmen Gefühlen dieses Bewußtseins abmessen, ob das Dasein Werth hat: kann man sich eine tollere Ausschweifung der Eitelkeit denken? Es ist ja nur ein Mittel: und angenehme oder unangenehme Gefühle sind ja auch nur Mittel!— Woran mißt sich objektiv der Werth? Allein an dem Quantum gesteigerter und organisirter Macht, nach dem, was in allem Geschehen geschieht, ein Wille zum Mehr ...