November 1887 - März 1888 11 [1-100]
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(304) Sainte-Beuve: Nichts von Mann; voll eines verlogenen Hasses gegen alle Mannsgeister: schweift umher, feig, neugierig, gelangweilt, verleumderisch,—eine Weibsperson im Grunde, mit einer Weibs-Rachsucht und Weibs-Sinnlichkeit (—letztere hält ihn in der Nähe von Klöstern und andren Brutstätten der Mystik fest, zeitweilig selbst in der Nähe der Saint-Simonisten) übrigens ein wirkliches Genie der médisance, unerschöpflich reich an Mitteln dazu, fähig z.B. auf eine tödtliche Weise zu loben; nicht ohne eine anmuthige Virtuosen-Bereitwilligkeit, seine Kunst zur Schau zu stellen, wo es irgend am Platze ist: nämlich vor aller Art Zuhörerschaft, an der Etwas zu fürchten ist. Freilich nimmt er hinterdrein auch an seinen Zuhörern bei sich Rache, heimlich, kleinlich, unreinlich; in Sonderheit müssen es alle unabweislich vornehmen Naturen büßen, daß sie vor sich selber Ehrfurcht haben,—die hat er nicht! schon das Männliche, Stolze, Ganze, Selbstgewisse reizt ihn, schüttelt ihn bis zum Aufruhr.— Dies ist nun der Psychologe comme il faut: nämlich nach dem Maaß und dem Bedürfniß des jetzigen esprit français, der so spät, so krank, so neugierig ist, so aushorcherisch, so lüstern wie er; Heimlichkeiten schnüffelnd, wie er; instinktiv die Bekanntschaft mit Menschen von Unten und Hintenher suchend, nicht viel anders als es die Hunde unter einander machen (die ja auch auf ihre Art Psychologen sind). Plebejisch im Grunde und mit den Instinkten Rousseaus verwandt: folglich Romantiker—denn unter allem romantisme grunzt und giert der Pöbel nach “Vornehmheit”; revolutionär, aber durch die Furcht leidlich noch im Zaum gehalten. Ohne Freiheit vor Allem, was Stärke hat (öffentliche Meinung, Akademie, Hof, selbst Port-Royal). Seiner im letzten Grunde überdrüssig, bei Zeiten schon ohne Glauben an sein Recht, da zu sein; ein Geist, der sich von jung auf vergeudet hat, der sich vergeudet fühlt, der sich selbst immer dünner und älter wird. Das lebt zuletzt noch fort, von einem Tag zum andern, bloß aus Feigheit; das erbittert sich gegen alles Große an Mensch und Ding, gegen Alles, was an sich glaubt, da es leider Dichter und Halbweib genug ist, um das Große noch als Macht zu fühlen; das krümmt sich beständig, wie jener berühmte Wurm, weil es sich beständig von irgend Etwas Großem getreten fühlt. Als Kritiker ohne Maaßstab, Rückgrat und Halt, mit der Zunge des kosmopolitischen libertin für Vielerlei, aber ohne den Muth selbst zur eingeständlichen libertinage, folglich einem unbestimmten Klassicismus sich unterwerfend. Als Historiker ohne Philosophie und die Macht des Blicks, instinktiv die Aufgabe des Richtens in allen Hauptsachen ablehnend und die Maske der Objektivität vorhaltend (—damit eins der schlimmsten Muster, die das letzte Frankreich gehabt hat): abgesehn, wie billig, von den kleinen Dingen, wo ein feiner und vernutzter Geschmack die höchste Instanz ist, und wo er wirklich den Muth zu sich selber, die Lust an sich selber hat (—darin ist er den Parnassiens verwandt, die wie er die raffinirteste und eitelste Form der modernen Selbstverachtung, Selbstentäußerung darstellen). “Sainte-Beuve a vu une fois le premier Empereur. C’était à Boulogne: il était en train de pisser. N’est-ce pas un peu dans cette posture-là, qu’il a vu et jugé depuis tous les grands hommes?” (Journal des Goncourt, 2. p. 239)—so erzählen seine boshaften Feinde, die Goncourts. [Vgl. Edmond and Jules Huot de Goncourt, Journal des Goncourt. Mémoires de la vie littéraire. Vol. 2:1862-1865. Paris: Charpentier, 1887:239.]