Winter 1870-71 - Herbst 1872 8 [1-121]
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Im Hinblick auf jene geheimnißvolle und stets wiederkehrende Weisung der Traumerscheinung “Sokrates treibe Musik” können wir der Frage nicht ausweichen, ob wir uns überhaupt einen musiktreibenden d.h. künstlerisch produktiven Sokrates denken dürfen: wobei es wiederum zweifelhaft sein könnte, ob wir diesen uns nach dem Typus des Euripides oder des Plato vorzustellen hätten; wenn nicht gar damit ein durchaus eigenartiger Typus gemeint ist, der, in einer neuen Verschmelzung des Apollinischen und des Dionysischen, auch eine ganz, neue Kunstwelt inaugurirt. Das Letztere ist unsere Muthmaßung: um diese zu begründen, ist es nöthig, eine längere Combination von Gedanken darzustellen. Man darf doch von vorn herein dieser im Traume sich kundgebenden Weisheit so viel einräumen, daß ihr allein jene monströse Lücke, jener mystische defectus in der Anlage des Socrates deutlich geworden sei, daß ihr allein der Zugang zu der räthselvollsten Erscheinung des Alterthums erschlossen war, ja daß aus ihr heraus das hellenische Wesen als Richter sein Urtheil über Sokrates ausgesprochen habe.