Winter 1870-71 - Herbst 1872 8 [1-121]
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So gewiß solch ein Wesen wie Sokrates den Athenern als etwas schlechthin Neues und Fremdartiges erscheinen mußte, so sicher ist andernseits die tiefste Verwandtschaft dieses Sokrates mit der platonischen Idee des Hellenischen. Sehen wir uns nur die mythischen Repräsentanten des Hellenischen an, so erinnern gerade die größten Gestalten an den Sokrates. Er ist zugleich Prometheus und Oedipus, aber Prometheus vor seinem Feuerraub und Oedipus vor der Räthsellösung der Sphinx. Durch ihn wird eine neue Spiegelung jener beiden Repräsentanten inaugurirt, die sich wie ein ins Unendliche vergrößerter Schatten in der Abendsonne weithin über die Nachwelt verbreitet.
Wir haben von Sokrates aber immer noch das Wenigste gesagt. Es ist noch unausgesprochen, wie bis auf diesen Moment sein Einfluß, gleich einem in der Abendsonne immer größer werdenden Schatten, über die Nachwelt hin sich ausgebreitet hat, und wie derselbe zur Umschaffung der Kunst—und zwar der Kunst in dem tiefsten und weitesten, bereits metaphysischen Sinne—immer wieder nöthigt und, bei seiner eigenen Unendlichkeit, auch deren Unendlichkeit verbürgt.