Winter 1870-71 - Herbst 1872 8 [1-121]
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Heribert Marquis von Villemain hatte von seiner schönen und tugendhaften Gattin—aus dem Hause der Montmorenci—zwei Kinder, zuerst einen Knaben und dann nach Verlauf einiger Jahre ein Mädchen, dessen Geburt die zarte und häufig leidende Mutter nur schwer überstand. Als das letztgeborene Kind vier Jahre alt war, wurde der Marquis Wittwer. Man sah ihn längere Zeit nicht mehr in den benachbarten Schlössern, ja selbst in seinen Wäldern und Gehegen wurde er zum Staunen seiner Jäger vermißt, und man sagte sich daß die Jagdhunde, wenn er jetzt einmal erschien, ihn wie einen Fremden anfuhren. Endlich, nach der längeren Anwesenheit eines berühmten Arztes, der freilich auch noch unheimliche Künste verstehen sollte, z. B. geliebte Todte auf kurze Augenblicke erscheinen zu lassen, gieng eines Morgens die Nachricht durch das Dorf, daß in der letzten Nacht der Marquis sammt seinem Töchterchen das Schloß verlassen habe und seiner Gesundheit wegen dem Süden zueile. Es war im zweiten Monat des Jahres, als er in Rom anlangte: und alsbald sehen wir ihn in den rauschenden Festlichkeiten, die den Carneval einleiten, in Verbindung mit der besten, doch auch leichtsinnigsten Gesellschaft, wie er heiteren Blicks und nicht ohne Übermuth ganz dem Augenblicke lebt und im athemlosen Schleifen sich nicht Zeit nimmt, der Vergangenheit zu gedenken. Als nun gar der Karneval alle lebensfreudigen Regungen zum Taumel und zur Trunkenheit steigerte, erschien unser Marquis wie ein toller unerfahrener Jüngling, so daß der berühmte Arzt, der um diese Zeit mit ihm in Rom zusammentreffen wollte, nach einer kurzen Begegnung ihm aus dem Wege gieng und ihn wieder in die würdige Einsamkeit seines Schlosses zurückwünschte. In der Nacht vor Aschermittwoch kehrte der Marquis mit mühsamem Schritte von einem Gelage heim, welches der damalige französische Gesandte veranstaltet hatte. Vor seinem ermüdeten Blicke tanzten noch die Bilder der glänzenden und üppigen römischen Schönheiten und der farbige Strudel von Lichtern, blitzenden Geschmeiden, glühenden Augen, so daß er plötzlich zusammenfuhr, als sein Diener, der hinter ihm hergegangen war, ihn festhielt, damit er nicht an seinem eigenen Hause vorübergehe. Traurig glitt sein Auge über das todte Mauerwerk hin; und indem er langsam suchte, warum heute Nacht das Haus so oede und verlassen wie nie ihm erschien, fiel ihm ein, daß in früheren Nächten ein Fenster immer noch erleuchtet war, zu welcher Stunde der Nacht er auch heimkehrte, das Fenster jenes Schlafzimmers, in dem die kleine Tochter sammt ihrer Wärterin lag. Auch dies Fenster war heute dunkel. Es fröstelte den Marquis, als der Diener mit den Schlüsseln an der Thür knarrte. Schweigend stieg er die Treppe hinauf, sein dumpfer Schritt verklang allmählich in seinem Zimmer, in das der Diener ihm folgte, um die Lichter anzuzünden. Dieser ehrliche bereits ergraute Mann war seinem Herrn ergeben genug, um nicht ohne Trauer sein jetziges Leben mit der friedfertigen Vergangenheit zu vergleichen: und so verließ er ihn heute, wie auch frühere Abende, mit einem ernsten Gesicht, auf dem ein frommer Wunsch und die alte Zärtlichkeit für seinen Gebieter sich aussprachen. Behutsam und leise hatte er die Thür geschlossen: aber fast in derselben Minute wurde sie schnell aufgerissen und der Kopf des Dieners erschien wieder; die Hand mit der er den Leuchter trug schwankte und bevor noch ein einziges Wort von seinen Lippen gekommen war, lag der Leuchter mit dem ersterbenden Licht auf der Erde. Der Marquis, der bis jetzt mit den Händen vor den Augen auf einem Stuhl gesessen hatte, sprang auf und leuchtete dem leichenfarbigen Diener entgegen, der mit beiden Händen und abgewandten Hauptes nach der Seite hin zu deuten schien. Der Lichtstrahl, der aus dem Zimmer heraus fiel, zeigte auf dem Vorsaal eine offenstehende Thür, schräg dem Zimmer des Marquis gegenüber. Hier war der Eingang zu dem Schlafzimmer der Tochter und ihrer Wärterin. “Sie ist verloren, sie ist geraubt!” schrie der Marquis; eine unwiderstehliche Ahnung drängte ihn so zu rufen, bevor er noch das oede, in seiner Ordnung gespenstische Schlafzimmer gesehen und über dem leeren Bettchen des Kindes niedergesunken war.