Winter 1870-71 - Herbst 1872 8 [1-121]
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Denken wir selbst an die natürlichste und abgeschwächteste Vereinigung von Musik und Bild, in der menschlichen Sprache, so liegt die Möglichkeit des gegenseitigen Verstehens durchaus in der instinktiv verständlichen Willensmagie des Tones und der Rhythmik der Tonfolge: das Bild wird erst begriffen, nachdem durch den Ton bereits Einverständniß erzeugt ist. Das Bild ist auch hier nur Gleichniß der dionysischen Natur des Tons.
Das Recitativ, der erste Keim der Oper, ist in seinem Ursprunge verstanden worden als die Wiederherstellung der Ursprache der Menschheit: mit ihm flüchtete man sich, in idyllischer Regung, aus der Unnatur neuer Musik in ein erträumtes Paradies naiver Wesen, denen man wiederum nur die harmloseste Einfachheit musikalischer Wendungen und Kadenzen zuzutrauen wagte. Dabei konnte man aber einmal nicht consequent verfahren, indem diese selben Wesen in den modernen Sprachen, mit ihren unsäglichen Abirrungen und Verkümmerungen, reden mußten. Und andrerseits wußte man nicht, daß gerade der Ausdruck des Tons in der Sprache und besonders in den glücklichen Zeiten, in die man sich hinein träumte, von einer so unbegreiflichen Mannichfaltigkeit und Freiheit war, daß ihr gegenüber auch der complicirteste musikalische Bau in Rhythmik und Melodik doch nur Nachahmung ist: die Sprache bleibt unbestritten das höchste musikalische Wunderwerk der Natur. So erkennen wir denn schon in der Wurzel der modernen Oper eine unhistorische Flucht in eine phantastische Urgeschichte der Menschheit, einen sentimentalischen Trieb ins Idyllische. Auch im Gebrauch der Sprache haben wir einen bewußt erstrebten Rückschritt ins Einfache anzuerkennen: man meinte die naiven Ausdrucksweisen der Urmenschen wiedergefunden zu haben. Daß man an diesen harmlosen Texten und der im Grunde unerträglichen Musik ein schwärmerisches Behagen empfand, mag man nun dreist mit der Bewunderung vergleichen, die unsere Altvordern für Ossian, oder für Geßner beseelte. Die Arie galt als die Lyrik der Urzeit und wurde als solche bewundert. So sehen wir im Grunde die Bewunderung für die Oper: Empfindungen, die gänzlich abseits liegen von der Wirkung der Musik und der Poesie selbst. Es waren “moralische” Empfindungen, die den Enthusiasmus für die Oper geschaffen haben, ähnlich wie die, welche die Renaissance hervorbrachten. Diese “moralischen” Empfindungen haben von vorn herein die Oper in das Gebiet der schlechten Musik und der schlechten Poesie gebracht: künstliche Naivetät: von Anfang an das Werk geistreicher Dilettanten. Als nun diese moralischen Empfindungen nachließen, konnte man nach zwei Seiten hin die Oper entwickeln, einmal zur guten Musik, andrerseits zum wirksamen Mimus. Aus letzterem ist die dramatische Musik entstanden. Bei der guten Musik ist das Verhältniß zur Poesie rein illusorisch. Bei dem Mimus ist die Musik zur Unmusik geworden. Mozart verlangt, daß die Poesie “der Musik gehorsame Tochter sei.”