Frühjahr-Sommer 1888 16 [1-89]
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Wir entbehren in der Musik einer Ästhetik, die den Musikern Gesetze aufzuerlegen verstünde und ein Gewissen schüfe; wir entbehren, was eine Folge davon ist, eines eigentlichen Kampfes um “Principien”—denn als Musiker lachen wir über die Herbartschen Velleitäten auf diesem Gebiete ebenso sehr, als über die Schopenhauers. Thatsächlich ergiebt sich hieraus eine große Schwierigkeit: wir wissen die Begriffe “Muster”, “Meisterschaft”, “Vollkommenheit” nicht mehr zu begründen—wir tasten mit dem Instinkte alter Liebe und Bewunderung blind herum im Reich der Werthe, wir glauben beinahe “gut ist was uns gefällt” ... Es erweckt mein Mißtrauen, wenn ganz unschuldig Beethoven allerwärts als “Classiker” bezeichnet wird: ich würde streng aufrecht erhalten, daß man in anderen Künsten unter einem Classiker einen umgekehrten Typus als der Beethovens ist, begreift. Aber wenn gar noch die vollkommene und in die Augen springende Stil-Auflösung Wagners, sein sogenannter dramatischer Stil als “Vorbild”, als “Meisterschaft”, als “Fortschritt”, gelehrt und verehrt wird, so kommt meine Ungeduld auf ihren Gipfel. Der dramatische Stil in der Musik, wie ihn Wagner versteht, ist die Verzichtleistung auf Stil überhaupt unter der Voraussetzung daß etwas [Anderes] hundert Mal wichtiger ist als Musik, nämlich das Drama. Wagner kann malen, er benutzt die Musik nicht zur Musik, er verstärkt Attitüden, er ist Poet; endlich, er hat an die “schönen Gefühle” und “gehobenen Busen” appellirt gleich allen Theaterkünstlern—mit dem Allen hat er die Frauen und selbst die Bildungs-Bedürftigen zu sich überredet: aber was geht Frauen und Bildungs-Bedürftige die Musik an! Das hat Alles kein Gewissen für die Kunst; das leidet nicht, wenn, alle ersten und unerläßlichsten Tugenden einer Kunst zu Gunsten von Nebenabsichten, als ancilla dramaturgica, mit Füßen getreten und verhöhnt werden.— Was liegt an aller Erweiterung der Ausdrucks-Mittel, wenn das, was da ausdrückt, die Kunst selbst für sich selbst das Gesetz verloren hat? Die malerische Pracht und Gewalt des Tons, die Symbolik von Klang, Rhythmus, Farbentönen der Harmonie und Disharmonie, die suggestive Bedeutung der Musik, in Hinsicht auf andere Künste, die ganze mit Wagner zur Herrschaft gebrachte Sinnlichkeit der Musik—das Alles hat Wagner an der Musik erkannt, herausgezogen, entwickelt. Victor Hugo hat etwas Verwandtes für die Sprache gethan: aber schon heute fragt man sich in Frankreich im Fall Victor Hugo’s, ob nicht zum Verderb der Sprache ... ob nicht, mit der Steigerung der Sinnlichkeit in der Sprache, die Vernunft, die Geistigkeit, die tiefe Gesetzlichkeit in der Sprache heruntergedrückt worden ist? Daß die Dichter in Frankreich Plastiker, daß die Musiker in Deutschland Schauspieler und Cultur-Anpinseler geworden sind—sind das nicht Zeichen der décadence?
Wagner macht alles Mögliche mit Hülfe der Musik, was nicht Musik ist: er giebt Schwellungen, Tugenden, Leidenschaften zu verstehen.
Musik ist ihm Mittel
Ist ihr nicht alle geistigere Schönheit abhanden gekommen, die hohe übermüthige Vollkommenheit, welche im Wagniß noch die Anmuth umarmt, der hinreißende Sprung und Tanz der Logik, der — — —