Frühjahr-Sommer 1888 16 [1-89]
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Die Tugend ist unter Umständen bloß eine ehrwürdige Form der Dummheit: wer dürfte ihr darum übelwollen? Und diese Art Tugend ist auch heute noch nicht überlebt. Eine Art von wackerer Bauern-Einfalt, welche aber in allen Ständen möglich ist und der man nicht anders als mit Verehrung und Lächeln zu begegnen hat, glaubt auch heute noch, daß Alles in guten Händen ist, nämlich in der “Hand Gottes”: und wenn sie diesen Satz mit jener bescheidenen Sicherheit aufrecht erhalten, wie als ob sie sagten, daß zwei mal zwei vier ist, so werden wir Andern uns hüten, zu widersprechen. Wozu diese reine Thorheit trüben? Wozu sie mit unseren Sorgen in Hinsicht auf Mensch, Volk, Ziel, Zukunft verdüstern? Und wollten wir es, wir könnten es nicht. Sie spiegeln ihre eigne ehrwürdige Dummheit und Güte in die Dinge hinein (bei ihnen lebt ja der alte Gott, deus myops, noch!); wir Anderen—wir sehen etwas Anderes in die Dinge hinein: unsre Räthsel-Natur, unsre Widersprüche, unsre tiefere, schmerzlichere, argwöhnischere Weisheit.