Frühjahr-Sommer 1888 16 [1-89]
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Der moderne Künstler, in seiner Physiologie dem Hysterismus nächstverwandt, ist auch als Charakter auf diese Krankhaftigkeit hin abgezeichnet. Der Hysteriker ist falsch: er lügt aus Lust an der Lüge, er ist bewunderungswürdig in jeder Kunst der Verstellung—es sei denn, daß seine krankhafte Eitelkeit ihm einen Streich spielt. Diese Eitelkeit ist wie ein fortwährendes Fieber, welches Betäubungsmittel nöthig hat und vor keinem Selbstbetrug, vor keiner Farce zurückschreckt, die eine augenblickliche Linderung verspricht. Unfähigkeit zum Stolz und beständig Rache für eine tief eingenistete Selbstverachtung nöthig zu haben—das ist beinahe die Definition dieser Art von Eitelkeit. Die absurde Erregbarkeit seines Systems, die aus allen Erlebnissen Krisen macht und “das Dramatische” in die geringsten Zufälle des Lebens einschleppt, nimmt ihm alles Berechenbare: er ist keine Person mehr, höchstens ein Rendezvous von Personen, von denen bald diese, bald jene mit unverschämter Sicherheit herausschießt. Eben darum ist er groß als Schauspieler: alle diese armen Willenlosen, welche die Ärzte in der Nähe studiren, setzen in Erstaunen durch ihre Virtuosität der Mimik, der Transfiguration, des Eintretens in fast jeden verlangten Charakter.