Frühjahr-Sommer 1888 16 [1-89]
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Aesthet[ica]
Grundeinsicht: was ist schön und hässlich.
Nichts ist bedingter, sagen wir bornirter als unser Gefühl des Schönen. Wer es losgelöst denken wollte von der Lust des Menschen am Menschen, verlöre sofort Grund und Boden unter den Füßen. Im Schönen bewundert sich der Mensch als Typus: in extremen Fällen betet er sich selbst an. Es gehört zum Wesen eines Typus, daß er nur an seinem Anblick glücklich wird,—daß er sich und nur sich bejaht. Der Mensch, wie sehr er auch die Welt mit Schönheiten überhäuft sieht, er hat sie immer nur mit seiner eignen “Schönheit” überhäuft: das heißt, er hält Alles für schön, was ihn an das Vollkommenheits-Gefühl erinnert, mit dem er als Mensch zwischen allen Dingen steht. Ob er wirklich damit die Welt verschönert hat? ... Und sollte zuletzt in den Augen eines höheren Geschmacksrichters der Mensch vielleicht gar nicht schön sein? ... Ich will nicht hiermit sagen unwürdig, aber ein wenig komisch? ..
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2
— Oh Dionysos, Göttlicher, warum ziehst Du mich an den Ohren? Ich finde eine Art Humor in deinen Ohren, Ariadne: warum sind sie nicht noch länger? ...
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[3.]
“Nichts ist schön: nur der Mensch ist schön” Auf dieser Naivetät ruht alle unsere Aesthetik: sie sei deren erste “Wahrheit”.
Fügen wir die complementäre “Wahrheit” sofort hinzu, sie ist nicht weniger naiv: daß nichts häßlich ist als der mißrathene Mensch.
Wo der Mensch am Häßlichen leidet, leidet er am Abortiren seines Typus; und wo er auch am Entferntesten an ein solches Abortiren erinnert wird, da setzt er das Prädikat “häßlich” an. Der Mensch hat die Welt mit Häßlichem überhäuft: das will sagen immer nur mit seiner eignen Häßlichkeit ... Hat er die Welt wirklich dadurch verhäßlicht? ...
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[4.]
Alles Häßliche schwächt und betrübt den Menschen: es erinnert ihn an Verfall, Gefahr, Ohnmacht. Man kann den Eindruck des Häßlichen mit dem Dynamometer messen. Wo er niedergedrückt wird, da wirkt irgend ein Häßliches. Das Gefühl der Macht, der Wille zur Macht—das wächst mit dem Schönen, das fällt mit dem Häßlichen.
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[5.]
Im Instinkt und Gedächtniß ist ein ungeheures Material aufgehäuft: wir haben tausenderlei Zeichen, an denen sich uns die Degenerescenz des Typus verräth. Wo an Erschöpfung, Müdigkeit, Schwere, Alter, oder an Unfreiheit, Krampf, Zersetzung, Fäulniß auch nur angespielt wird, da redet sofort unser unterstes Werthurtheil: da haßt der Mensch das Häßliche ..
Was er da haßt, es ist immer der Niedergang seines Typus. In diesem Haß besteht die ganze Philosophie der Kunst.
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[6.]
Wenn meine Leser darüber zur Genüge eingeweiht sind, daß auch “der Gute” im großen Gesammt-Schauspiel des Lebens eine Form der Erschöpfung darstellt: so werden sie der Consequenz des Christenthums die Ehre geben, welche den Guten als den Häßlichen concipirte. Das Christenthum hatte damit Recht. —
An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen: das Gute und das Schöne sind Eins: fügt er gar noch hinzu “auch das Wahre”, so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist häßlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn.
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7.
Über das Verhältniß der Kunst zur Wahrheit bin ich am frühesten ernst geworden: und noch jetzt stehe ich mit einem heiligen Entsetzen vor diesem Zwiespalt. Mein erstes Buch [war] ihm geweiht; die Geburt der Tragödie glaubt an die Kunst auf dem Hintergrund eines anderen Glaubens: daß es nicht möglich ist mit der Wahrheit zu leben; daß der “Wille zur Wahrheit” bereits ein Symptom der Entartung ist ...
Ich stelle die absonderlich düstere und unangenehme Conception jenes Buches hier noch einmal hin. Sie hat den Vorrang vor anderen Pessimistischen Conceptionen, daß sie unmoralisch [ist]:—sie ist nicht wie diese von der Circe der Philosophen, von der Tugend, inspirirt. —
Die Kunst in der “Geburt der Tragödie”
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