August-September 1885 40 [1-70]
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Scheinbar entgegengesetzt die 2 Züge, welche die modernen Europäer kennzeichnen: das Invidualistische und die Forderung gleicher Rechte: das verstehe ich endlich. Nämlich, das Individuum ist eine äußerst verwundbare Eitelkeit:—diese fordert, bei ihrem Bewußtsein, wie schnell sie leidet, daß Jeder Andere ihm gleichgestellt gilt, daß er nur inter pares ist. Damit ist eine gesellschaftliche Rasse charakterisirt, in welcher thatsächlich die Begabungen und Kräfte nicht erheblich auseinandergehn. Der Stolz, welcher Einsamkeit und wenige Schätzer will, ist ganz außer Verständniß; die ganz “großen” Erfolge giebt es nur durch Massen, ja man begreift es kaum noch, daß ein Massen-Erfolg immer eigentlich ein kleiner Erfolg ist: weil pulchrum est paucorum hominum.— Alle Moralen wissen nichts von “Rangordnung” der Menschen; die Rechtslehrer nichts vom Gemeinde-Gewissen. Das Individual-Princip lehnt die ganz großen Menschen ab und verlangt, unter ungefähr Gleichen, das feinste Auge und die schnellste Herauserkennung eines Talentes; und weil Jeder etwas von Talenten hat, in solchen späten und civilisirten Culturen, also erwarten kann, sein Theil Ehre zurückzubekommen, deshalb findet heute ein Herausstreichen der kleinen Verdienste statt wie niemals noch:—es giebt dem Zeitalter einen Anstrich von grenzenloser Billigkeit. Seine Unbilligkeit besteht in einer Wuth ohne Grenzen nicht gegen die Tyrannen und Volksschmeichler, auch in den Künsten, sondern gegen die vornehmen M, welche das Lob der Vielen verachten. Die Forderung gleicher Rechte (z. B. über Alles und Jeden zu Gericht sitzen zu dürfen) ist anti-aristokratisch. Ebenso fremd ist ihm das verschwundene Individuum, das Untertauchen in einen großen Typus, das Nicht-Person-sein-wollen: worin die Auszeichnung und der Eifer vieler hohen Menschen früher bestand (die größten Dichter darunter); oder “Stadt sein” wie in Griechenland; Jesuitismus, preußisches Offizier-Corps und Beamtenthum; oder Schüler sein und Fortsetzer großer Meister: wozu ungesellschaftliche Zustände und der Mangel der kleinen Eitelkeit nöthig ist