August-September 1885 40 [1-70]
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Unser “Gedächtniß,” was es immer sei, mag uns als Gleichniß dienen, etwas Wichts damit zu bezeichnen: in der Entwicklung jedes organischen Wesens zeigt sich ein Wunderding von Gedächtniß für seine gesammte Vorgeschichte, soweit organische Wesen eine Vorgeschichte haben,—und zwar ein nachbildendes Gedächtniß, welches die frühesten und längstens einverleibten Formen eher nachbildet als die letzterlebten: somit zurückgreift und nicht schrittweise, wie man vermuthen sollte, mit einem regressus vom Letzten zum Fernst-Erlebten geht, sondern gerade umgekehrt alles Jüngere und Frischer-Eingedrückte zunächst bei Seite läßt. Hier ist eine erstaunliche Willkür da:— Auch die “Seele,” welche in allen philosophischen Verlegenheiten gewöhnlich zu Hülfe gerufen wird, vermag hier nicht zu helfen: zum Mindesten nicht die Individuai-seele, sondern ein Seelen-continuum, welches im ganzen Prozesse einer gewissen organischen Reihe waltete. Wiederum: da nicht Alles nachgebildet wird, sondern nur Grundformen, so müßte in jenem Gedächtniß ein subsumirendes Denken, Simplificiren, Reduziren beständig stattfinden: genug, etwas Analoges dem, was wir von unserem Bewußtsein aus als “Logik” bezeichnen.— Und wie weit mag diese Nachbildung des früher Erlebten gehen? Gewiß auch bis zur Nachbildung von Gefühls- und Gedankengängen. Aber was halten von den “angeborenen Ideen,” welche Locke in die Zweifel zog? Es ist sicherlich viel mehr wahr als nur dies, daß Ideen angeboren werden, vorausgesetzt, daß man den Akt der Geburt nicht bei dem Wort “angeboren” unterstreicht.