August-September 1885 40 [1-70]
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Die Physiker sind jetzt mit allen Metaphysikern darüber einmüthig, daß wir in einer Welt der Täuschung leben: glücklich, daß man nicht mehr nöthig hat, darüber mit einem Gotte abzurechnen, über dessen “Wahrhaftigkeit” man zu seltsamen Gedanken kommen könnte. Das Perspektivische der Welt geht so tief als heute unser “Verständniß” der Welt reicht; und ich würde es wagen, es noch dort anzusetzen, wo der Mensch billigerweise überhaupt von Verstehen absehn darf—ich meine dort, wo die Metaphysiker das Reich des anscheinend Sich-selbst-Gewissen, Sich-selber-Verständlichen, u im Denken. Daß die Zahl eine perspektivische Form ist, so gut als Zeit und Raum, daß wir so wenig “Eine Seele” als “zwei Seelen” in einer Brust beherbergen, daß die “Individuen” sich wie die materiellen “Atome” nicht mehr halten lassen, außer für den Hand-Hausgebrauch des Denkens, und sich in ein Nichts verflüchtigt (oder in eine “Formel”), daß Nichts Lebendiges und Todtes zusammenaddirt werden kann, daß beide Begriffe falsch sind, daß es nicht drei Vermögen der Seele giebt, daß “Subjekt” und “Objekt” “Aktivum und Passivum” “Ursache und Wirkung” “Mittel und Zweck” immer nur perspektivische Formen sind, in summa daß die Seele, die Substanz, die Zahl, die Zeit, der Raum, der Grund, der Zweck,—miteinander stehen und fallen. Gesetzt aber nun, daß wir nicht so thöricht sind, die Wahrheit, in diesem Falle das x, höher zu schätzen, als den Schein, gesetzt daß wir entschlossen sind zu leben—so wollen wir mit dieser Scheinbarkeit der Dinge nicht unzufrieden sein und nur daran festhalten, daß Niemand zu irgend welchen Hintergedanken in der Darstellung dieser Perspektivität stehen bleibt:—was in der That fast allen Philosophen bisher begegnet ist, denn sie hatten alle Hintergedanken und liebten ihre “Wahrheiten”—Freilich: wir müssen hier das Problem der Wahrhaftigkeit aufwerfen: gesetzt, wir leben in Folge des Irrthums, was kann denn da der “Wille zur Wahrheit” sein? Sollte er nicht ein “Wille zum Tode” sein müssen?— Wäre das Bestreben der Philosophen und wissenschaftlichen Menschen vielleicht ein Symptom entartenden absterbenden Lebens, eine Art Lebens-Überdruß des Lebens selber? Quaeritur: und man könnte hier wirklich nachdenklich werden.