August-September 1885 40 [1-70]
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Gesetzt, die Welt wäre falsch, Leben nur auf dem Boden des Wahns, unter dem Schirme des Wahns, an dem Leitfaden des Wahns zu begreifen: was bedeutete dann “der Natur gemäß leben”? Könnte die Vorschrift nicht gerade die sein: “sei ein Betrüger”? Ja sogar, wie wollte man es verhüten zu täuschen? Wir irren uns über uns selber und sind uns unfaßbar: wie viel mehr sind wir es für die “Nächsten”! Aber sie glauben sich nicht getäuscht durch uns—und darauf hin beruht aller Verkehr mit gegenseitigen Rechten und Pflichten.— Daß das Täuschen nicht in meiner Absicht liegt, zugegeben! Aber feiner zugesehn: ich thue auch nichts dazu, meine Nächsten aufzuklären, darüber, daß sie sich über mich täuschen. Ich verhindere nicht ihren Irrthum, ich bekämpfe ihn nicht, ich lasse ihn geschehn—: in so fern bin ich zuletzt doch der Betrügende mit Willen. Genau so verfahre ich aber auch gegen mich selber: die Selbsterkenntniß gehört nicht unter die Gefühle der Verpflichtung; selbst wenn ich mich zu erkennen Suche, so geschieht es aus Gründen der Nützlichkeit oder einer feineren Neugierde,—nicht aber aus dem Willen der Wahrhaftigkeit.— Daß der Wahrhaftige mehr werth sei als der Lügner, im Haushalte der Menschheit, wäre immer noch erst zu erweisen. Die ganz Großen und Mächtigen waren bisher Betrüger: ihre Aufgabe wollte es von ihnen. Vorausgesetzt, daß es sich ergäbe, Leben und Vorwärtskommen sei nur möglich auf einem consequenten und langen Getäuscht-werden: so könnten die consequenten Betrüger zu den höchsten Ehren kommen, als Lebensbedinger und Förderer des Lebens. Daß man schädigt, indem man nicht die Wahrheit sagt, ist der Glaube der Naiven, eine Art Frosch-Perspektive der Moral. Wenn das Leben und der Werth des Lebens auf gut geglaubten Irrthümern ruht, so könnte gerade der Wahrheit-Redende, Wahrheit-Wollende der Schädigende sein (als der Aufdröseler der Illusionen).