August-September 1885 40 [1-70]
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Schluss von “der Mensch im Verkehre”
Vorrede und Vorfrage:
“was sind freie Geister?”
“Eine Seele, in welcher die Weltweisheit wohnt, muß durch ihre Gesundheit auch den Körper gesund machen”: so sagt es Montaigne, und ich gebe heute gern mein Jawort dazu, als Einer, der auf diesem Bereiche Erfahrung hat. “Es kann nichts Muntreres, Aufgeweckteres, fast hätte ich gesagt, Kurzweiligeres geben als die Welt und ihre Weisheit”: so sage ich ebenfalls mit Montaigne—aber unter welchen bleichen und schauerlichen Larven gieng damals die Weisheit an mir vorbei! Genug, ich fürchtete mich oft genug vor ihr und war ungern dergestalt mit ihr allein und begab mich, allein und schweigsam, aber mit einem zähen “Willen zur Weisheit” und zum Süden,—auf die Wanderschaft. Damals nannte ich mich bei mir selber einen “freien Geist,” oder “den Prinzen Vogelfrei” und wer mich gefragt hätte: wo bist du eigentlich noch zu Hause, dem würde ich geantwortet haben “vielleicht Jenseits von Gut und Böse, sonst nirgends.” Aber ich trug dergestalt hart daran, daß ich keine Wandergenossen hatte: so warf ich denn eines Tags einen Angelhaken nach anderen “freien Geistern” aus—mit eben diesem Buche, das ich bereits mit Namen nannte als “ein Buch für freie Geister.”
Heute freilich—was lernt man nicht alles in zehn Jahren!—weiß ich kaum noch, ob ich mit diesem Buche nach Gefährten und “Wandergenossen” suche. Inzwischen nämlich lernte ich, was jetzt Wenige verstehen, Einsamkeit ertragen, Einsamkeit—“verstehen”, und ich würde es heute geradezu mit unter die wesentlichen Anzeichen eines “freien Geistes” setzen, daß er lieber allein läuft, lieber allein fliegt, ja selber noch, wenn er einmal kranke Beine hat, lieber allein kriecht. Die Einsamkeit tödtet, wenn sie nicht heilt: das ist wahr; die Einsamkeit gehört zu einer schlimmen und gefährlichen Heilkunst. Aber gewiß ist, daß sie, wenn sie heilt, auch den Menschen gesünder und selbstherrlicher hinstellt, als je ein Mensch in Gesellschaft, ein Baum in seinem Walde stehen könnte: Einsamkeit erprobt am gründlichsten, mehr als irgend eine Krankheit selber, ob Einer zum Leben geboren und vorbestimmt ist—oder zum Tode, wie die Allermeisten. Genug, ich lernte erst aus der Einsamkeit heraus die zusammengehörigen Begriffe “freier Geist” und “Gesundheit” ganz zu Ende denken.
2.
Wir “freien Geister” leben einzeln und hier und dort auf Erden—daran ist nichts zu ändern; wir sind Wenige—und so ist es billig. Es gehört zu unserem Stolze zu denken, daß unsere Art eine seltne und seltsame Art ist; und wir drängen uns nicht zu einander, wir “sehnen” uns vielleicht nicht einmal nach einander. Freilich: treffen wir einmal zusammen, wie heute, so giebt es ein Fest! Wenn wir das Wort “Glück” im Sinne unserer Philosophie gebrauchen, so denken wir dabei nicht wie die Müden, Geängstigten und Leidenden unter den Philosophen vor allem erst an äußeren und inneren Frieden, an Schmerzlosigkeit, Unbewegtheit, Ungestörtheit, an einen “Sabbat der Sabbate,” an etwas, das dem tiefen Schlafe im Werthe nahe kommen mag. Das Ungewisse vielmehr, das Wechselnde Verwandlungsfähigen Vieldeutige ist unsere Welt, eine gefährliche Welt! mehr noch sicherlich als das Einfache, Sich-selbst-Gleich-Bleibende, Berechenbare, Feste, dem bisher die Philosophen, als Erben der Heerden-Instinkte und Heerden-Werthschätzungen, die höchste Ehre gegeben haben. In vielen Ländern des Geistes bekannt und umhergetrieben usw.
3.
Habe ich euch damit beschrieben? Oder nur auf eine neue Weise verschwiegen? Ich weiß es nicht: aber ihr sagt mir, ihr befürchtet in jedem Falle, daß ich mich mit diesem Namen vergriffen habe? Daß der Name “freier Geist” vorweggenommen sei? Daß er irre führe? Daß man uns, auf diesen Namen hin, verwechseln werde?— Aber warum, unter uns gesagt, warum doch, meine Freunde, sollten wir nicht irreführen? Was liegt daran, daß man uns verwechselt? Werden wir uns deshalb verwechseln? Und zuletzt: wäre es vielleicht nicht schlimmer, wenn— —?
Wohlan, ich verstehe euch. ihr wollt durchaus einen anderen, einen neuen Namen! “Aus Stolz,” sagt ihr mir: das beste Argument, auf das hin man jede Dummheit thun darf. So fange ich denn von Neuem an: macht nur eure Ohren für meine Neuigkeiten auf!
— Aber hier unterbrecht ihr mich, ihr freien Geister. “Genug! Genug! höre ich euch schreien und lachen—wir halten es nicht mehr aus! Oh über diesen schauerlichen Hanswurst! Diesen tugendhaften Verräther und Verleumder! Willst du uns bei der ganzen Welt den Ruf verderben? Unseren guten Namen anschwärzen? Uns Zunamen anhängen, die sich nicht nur in die Haut einfressen? Stille, du Gewissens-Störenfried! Und wozu am hellen blauen Tage diese düsteren Fratzen, diese Gurgeltöne, diese ganze rabenschwarze Musik? Sprichst du Wahrheiten: nach solchen Wahrheiten können keine Füße tanzen, also sind es keine Wahrheiten für uns. Ecce nostrum veritatis sigillum! Und hier ist Rasen und weicher Grund: was gäbe es Besseres als geschwind deine Grillen wegjagen und uns, nach deiner “Nacht,” einen guten Tag machen? Aber Jemand muß uns dazu aufspielen! Und fort erst mit allen Wetterwolken! Es wäre Zeit, daß sich endlich wieder ein Regenbogen über das Land ausspannte, irgend eine bunte schöne Lügen-Brücke, auf der nur Geister, sehr freie, sehr luftige lustige Geister wandeln können! Und zu guterletzt und allererst: hast du keine Milch zu trinken? Du selber hast uns Durst gemacht nach deiner Milch!”
— “So viel ihr wollt, meine Freunde. Dort seht ihr ja meine Heerde springen, alle meine zarten sonnigen windsillen Lämmer und Böcke: und hier steht schon für euch ein ganzer Eimer Milch bereit, ein Eimer voll frischgemolkener Wahrheiten, noch warm genug, um euch wieder zu machen. Incipit: “Menschliches, Allzumenschliches. Gute Milch für freie Geister.” Wollt ihr davon trinken?
Schön ist’s, mit einander schweigen